Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

Eine Ohrfeige zur rechten Zeit. 
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2. Kirre Hljrferge zur rechten Zeit. 
Aus K. Wagners Lehren der Weisheit und Tugend. 
In einer der bedeutendsten Städte Norddeutschlands lebte ein Kauf¬ 
mann namens Müller, dem in letzter Zeit oft ein junger, wohl¬ 
gekleideter Mensch begegnete, der ihn sehr freundlich, ja fast zutraulich 
grüßte. Herr Müller erwiderte den Gruß zwar gern; da er sich aber 
nicht erinnerte, den jungen Menschen je zuvor gesehen zu haben, so 
glaubte er, dieser verwechsele ihn mit jemand, dem er vielleicht ähn¬ 
lich sei. 
Eines Tages nun war Herr Müller zu einem Freunde geladen, 
tlnd als er zur bestimmten Zeit auf dem Landsitze desselben eintraf, 
fand er denselben jungen Mann schon mit dem Hausherrn in eifrigem 
Gespräch die schattigen Alleen auf und ab gehend. Er näherte sich den 
beiden, die ihn auch schon aus der Ferne bemerkt hatten. Der Wirt 
wollte nun seine Freunde einander vorstellen; aber der jüngere machte 
eine abwehrende Bewegung mit der Hand, indem er sagte: „Das ist nicht 
nötig; wir kennen uns schon viele Jahre." — „Ich glaube, Sie sind 
im Irrtum," nahm jetzt Herr Müller das Wort, „was mich betrifft; 
— ich habe allerdings seit einiger Zeit manchen freundlichen Gruß von 
Ihnen bekommen, aber sonst sind Sie mir völlig fremd." — „Und 
doch bleibt es dabei: ich kenne Sie lange und habe mich sehr gefreut, 
Sie heute hier zu sehen und eine Gelegenheit zu haben, Ihnen meinen 
herzlichen Dank auszudrücken." — „Sie sprechen in Rätseln. Wie kann 
ich Sie zum Dank verpflichtet haben, wenn ich Sie gar nicht kenne?" 
— „Das ist allerdings eine alte Geschichte; aber wenn wir uns hier 
niedersetzen und Sie mir dann einige Augenblicke zuhören wollen, so 
glaube ich, werden Sie sich meiner doch vielleicht noch erinnern. 
Es sind jetzt 17 Jahre her — ich war damals ein Knabe von 
9 Jahren — als ich eines Morgens auf meinem Schulwege darüber 
nachdachte, wie angenehm es sein würde, wenn ich zu dem Brot, das 
mir die Mutter zum Frühstück mitgegeben, auch einen Apfel hätte; 
meine Kameraden aßen oft so schöne, große Äpfel, und ich bekam nur 
selten Obst. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kam ich auf den Markt¬ 
platz, über den mein Weg führte. Da waren viele Körbe voll der aus¬ 
erlesensten Früchte, die mich so recht anlachten. Ich blieb unwillkürlich 
stehen, um sie zu betrachten. Die Eigentümerin hatte ihrer Ware den 
Rücken zugekehrt und sprach angelegentlich mit einer Nachbarin. Da 
kam mir so der Gedanke: sie wird es kaum bemerken, wenn du einen 
Apfel nimmst; sie behält ja eine große Menge noch. Leise streckte ich 
meine Hand aus und wollte eben ganz vorsichtig meine Beute in die 
Tasche stecken, als ich plötzlich eine derbe Ohrfeige bekam, sodaß ich
	        
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