Naturbilder.
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VI. Naturbilder.
108. Erwachen des Frühlings in den Alpen.
Lauliche und wärmere Luftzüge verkünden den Frühling und helfen
emsig der langsamen Sonne das alte Schneelinnen zerstücken und zer¬
pflücken, ein mühseliges Werk. Halb gelungen überschüttet es ein trau¬
riger Tag wieder mit hohem Gestöber. Aber nicht für lange; wo nur
einmal die alte, zähe Rinde weggefressen ist, hält die letzte Lieferung
[Schneeschicht] nicht mehr vor.
Die Wälder und Büsche schütteln unwillig die unbequeme Last
ab; das Grüne arbeitet sich immer mehr heraus und stickt sich rasch
mit weißen, gelben und blauen Blüten, wo es nur ein wenig Herr ge¬
worden. Die ganze Gebirgslandschaft fängt an zu tönen und zu rauschen
in Wind und Wasser. Erst ein Stündchen oder zwei im höchsten Mittag,
dann auch des Nachmittags, bald auch abends und nachts und endlich
Tag und Nacht durch bleiben die rieselnden, plätschernden, rauschenden,
brausenden Wasser lebendig. Die Felsen tropfen, die Bäche haben sich
durch die Schneebrücken und Eistrümmer gefressen; neue Zuflüsse rinnen
von jeder Terrasse, von jedem Schneelager nach. An den jähen Wänden
krachen die Eissäulen des Wasserfalls, von frischen Güssen überströmt,
und stürzen mit donnerähnlichem Gepolter zusammen in das tiefaus-
gewühlte Bett. Eisblöcke, von frischem Wasser unternagt, rasseln ihnen
über die Felswand herunter nach und verpflanzen mit ihren Eissplittern
tausend knatternde Töne durch die Luft. Dazu die donnernden Höhen
mit ihren dumpf hinrollenden Lawinen und krachenden Gletschern, die
polternden Steine, die der Frost in den Fugen der Felswand gehoben
und die Feuchte gelöst hat, das Zusammenbrechen der unterhöhlten
Schneebänke: — gewiß, der Frühling kündet den Einzug seiner jungen
Lebensmächte tausendtönig schon durch die leblose Natur an. Es poltert
und kracht und zischt und plätschert und rieselt und donnert ringsum
durch die ganze Landschaft hin wie von Geisterunfug.
Dann bleibt auch die Welt der freien Organismen nicht zurück; nur
die Blumenwelt, die ewig stille. Specht und Amsel, Häher und Elster,
Meise und Schnepfe, Drossel und Goldhähnchen, Adler und Eule, Fink
und Kuckuck, Steinhuhn und Urhahn pfeifen, schreien, krächzen, hämmern,
trillern, falzen den Frühling in allen Tonarten durch. Bald gesellt sich
zu ihnen die schwirrende Fledermaus, der pfauchende Marder, das
raschelnde Eichhorn, der brummende Dachs, dann Grillen und Unken,
Zikaden und Käfer, Hummeln und Bienen, Wespen und Fliegen—jedes
mit seiner Stimme und seinen Tönen, die zuletzt von dem heraufsteigenden
Leben der zahmen Bergtiere, von den meckernden Ziegen, wiehernden
Pferden, brüllenden Stieren, bellenden Hunden, gackernden Hühnern, von
Zettel-Nicklas-Hergt, Teutsches Lesebuch II. 13. Ausl. * 10