Full text: [Teil 4 = [Kl. 6], [Schülerband]] (4. Teil = 6. Klasse, [Schülerband])

90. Die Qdetllleie. Von I^eiimcb Kerp. 
Land und Leute. 10. Band. Am Rhein. Bielefeld und Leipzig 1901. 8. 174. 
i ine frohe Zeit ist im Herbst die Zeit der Weinlese. Dann entfaltet 
sich in den Weinorten Rheinlands ein lustiges Leben und Treiben. 
Wenn auch unser heutiges Geschlecht mit manchen schönen alten Sitten 
gebrochen hat, so ist doch die frohe Stimmung dieser Zeit geblieben. 
Sie kommt besonders dann zur Geltung, wenn die Weinstöcke einen 
guten Behang haben, und wenn neben einem guten Ertrag — der Winzer 
redet von einen: halben oder dreiviertel Herbst — auch eine gute Qualität 
zu erwarten ist. Mit solcher Ernte ist der Winzer wohl zufrieden; 
kennt er doch all die Feinde, die sie hätten vernichten können: die Tücken 
der Witterung, die Plagen der Insekten und die Pilzkrankheiten. Helle 
Freude lacht aus seinem Auge, wenn er sieht, wie unter der Kraft der 
kochenden Sonne in den Beeren der Trauben der Saft anfängt in Wein 
überzugehen. Er merkt's an dem Durchsichtigwerden der Beeren. Die 
Gemeindeväter bestimmen jetzt die Schließung der Weinberge. Selbst 
der Besitzer darf sie nicht mehr betreten. Während des ganzen Tages 
geben die Hüter der Weinberge scharf acht. 
Endlich sind die Trauben völlig reif. Der Beginn der Lese wird 
öffentlich bekannt gegeben. Böllerschüsse künden den bedeutungsvollen 
Tag an, und Glockenklang läutet ihn feierlich ein. So ist es wenigstens 
noch in vielen Rheinorten. 
Mit Jubel im Herze:: steigt das Winzervölkchen hinauf in die 
Weinberge. Die Sonne hat die Herbstnebel zerstreut, und herrlich blickt's 
sich hinab in das liebliche Rheintal. Dort unten liegt das Heimatörtchen, 
so traut gebettet an: Ufer des blinkenden Stromes und umgeben von 
den Gruppen der Obstbäume. Dort das Kirchlein mit dem alten moosigen 
Schieferdache! Selbst das eigene Wohnhäuschen ist zu sehen. Bald 
sind schon die ersten Tragkörbe voll Trauben gepflückt. Die starken 
Burschen tragen sie hinab. Dort unten hält auf dem Wege ein Ochsen¬ 
gespann. Große Bottiche stehen auf dem Wagen, die die süße Last auf¬ 
nehmen sollen. Wie flink springen die Burschen die vielen Stufen des 
Bergpfades hinab! Voll Lust schwenken sie die Mützen, nach oben und 
nach unten grüßend. Dort oben aber, bei der Lese, sind die Mädchen
	        
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