Full text: Für untere Klassen (Abteilung 1, [Schülerband])

er sehr arm war. Sokrates, der seine Wünsche merkte, fragte 
ihn: „Warum scheust du dich vor mir?" „Weil ich nichts habe, 
was ich dir geben könnte." „Ei," erwiderte Sokrates, „schätzest 
du dich selbst so gering? Gibst du mir nichts, wenn du dich 
selbst mir gibst?" Und der Jüngling wurde ein eifriger Schüler 
des Sokrates. 
Der schon genannte Antisthenes ging täglich eine halbe 
Meile nach der Stadt, um Sokrates zu hören. Ja, ein anderer 
wißbegieriger Jüngling, Euklides, kam sehr oft von Megara, 
einer Stadt, vier Meilen von Athen, um nur einen Tag den 
Umgang des Sokrates zu genießen. Und als die Athener aus 
Erbitterung gegen Megara die Verordnung machten, daß kein 
Megarenser bei Lebensstrafe nach Athen kommen sollte, wagte 
es dennoch Euklides sehr oft, sich abends in Weiberkleidern auch 
mit Gefahr seines Lebens in die Stadt zu schleichen, um einen 
Tag bei Sokrates zu sein. 
5. 
Indes suchten ihn seine Neider und Gegner lächerlich und 
verhaßt zu machen und klagten ihn endlich an, daß er die 
Götter des Vaterlandes nicht achte und daß er die Jugend 
verderbe, indem er ihr gottlose Grundsätze einflöße. Sie klagten 
ihn an vor einem Gericht, das aus den gemeinsten Bürgern 
Athens bestand, die Sokrates nicht seinen Verdiensten gemäß 
kannten und zu achten wußten. Sokrates aber, ein Greis von 
siebzig Jahren, fand es seiner unwürdig, sich gegen solche An¬ 
klagen weitläufig zu verteidigen. Er berief sich kurz auf sein 
öffentliches Leben, versicherte, daß es seit dreißig Jahren sein 
einziges Bestreben gewesen sei, seine Mitbürger tugendhafter 
und glücklicher zu machen, und daß er zu dieser Beschäftigung 
einen göttlichen Beruf in sich fühle. Diese edle, ruhige Sprache 
erbitterte die Richter, die, wie es in Griechenland Sitte war, 
eine künstliche Verteidigungsrede mit Bitten und Thränen 
erwartet hatten. Sie schickten ihn also vorläufig ins Gefängnis. 
Hier brachte ihm einer seiner Freunde eine künstlich ausge¬ 
arbeitete Rede und bat ihn, sie auswendig zu lernen. Sokrates 
las sie und fand sie schön. „Aber", sagte er, „brächtest du 
mir schöne, weiche und prächtige Socken, ich würde sie nicht 
tragen, weil ich es für unmännlich hielte." 
In der nächsten Versammlung wurden die Stimmen über 
ihn gesammelt und durch die Überzahl von drei Stimmen
	        
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