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A. Epische Poesie. I. Fabeln.
80. Versuchung.
Von Robert Reinick. Deutscher Jugendkalender für 1851. Leipzig.
1. Gar emsig bei den Büchern
Ein Knabe sitzt im Kämmerlein,
Da lacht herein durchs Fenster
Der lust'ge blanke Sonnenschein
Und spricht: „Lieb Kind, du sitzest
hier?
Komm' doch heraus und spiel' bei
mir!"
Den Knaben stört es nicht,
Zum Sonnenschein er spricht:
„Erst laß mich fertig sein!"
3. Der Knabe schreibt und
schreibet,
Da guckt der Apfelbaum herein
Und rauscht mit seinen Blättern
Und spricht: „Wer wird so fleißig
sein?
Schau' meine Äpfel! Diese Nacht
Hab' ich für dich sie reif gemacht!"
Den Knaben stört es nicht,
Zum Apfelbaum er spricht:
„Erst laß mich fertig sein!"
2. Der Knabe schreibet weiter,
Da kommt ein lustig Vögelein,
Das picket an die Scheiben
Und schaut so schlau zu ihm herein.
Es ruft: „Komm mit! Der Wald
ist grün,
Der Himmel ist blau, die Blumen
blühn!"
Den Knaben stört es nicht,
Zum Vogel kurz er spricht:
„Erst laß mich fertig sein!"
4. Da endlich ist er fertig;
Schnell packt er seine Bücher ein
Und läuft hinaus zum Garten.
Juchhe! Wie lacht der Sonnen¬
schein!
Das Bäumchen wirft ihm Apfel
zu,
Der Vogel singt und nickt ihm zu.
Der Knabe springt vor Lust
Und jauchzt aus voller Brust;
Jetzt kann er lustig sein.
81. Der Knabe und der Stieglitz.
Von Justus Friedrich Wilhelm Zachariä. Fabeln und Erzählungen.
Braunschweig, 1772.
Ein bunter Stieglitz ward gefangen
Und einem Knaben auf Verlangen
Zu seinem Eigentum geschenkt,
Der, ganz entzückt, auf nichts mehr
denkt
Als seines Vogels recht zu pflegen.
Er sucht daher ihm allerwegen
Sein liebstes Futter, füllt sein Glas
Des Tages oft mit frischem Naß,
Vergoldet ihm sein kleines Haus
Und bringt ihm manchen Distel¬
schmaus.
Der Stieglitz aber findet doch
Zuletzt ein unbemerktes Loch,
Aus welchem er gar bald entkam
Und fröhlich seinen Abschied nahm.
Der Knabe rief ihm freundlich zu:
„Wohin, du armer Vogel, du?
Was hat dir denn bei mir gefehlt,
Daß sich dein Flug das Weite wählt?
Hab' ich nicht alles dir gegeben,
Wovon die Herrn Stieglitze leben?
War nicht dein Käfig ein Palast,
Mit goldnen Drähten eingefaßt?
Und ward dir nicht aus meiner Hand
Manch Stückchen Zucker zugewandt?
Komm wieder, bitt' ich dich, herein!"
Der Stieglitz gab zur Antwort:
„Nein!
Weg mit der goldnen Sklaverei!
Hier hab' ich mehr; denn ich bin
frei".