W. v. Giesebrechl: Kaiser Otto der Große.
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daß Berengar, Markgraf zu Jvrea, ein wilder und treuloser Tyrann,
ihn vergiftet habe. Berengar bewog nun die Fürsten Italiens, daß sie
ihn zum König wählten. Weil er aber fürchtete, daß das Volk seine
Würde nicht anerkennen möchte, so drang er heftig in Adelheid, die hinter¬
lassene Witwe Lothars, daß sie seinen Sohn Adalbert zum Gemahl nehme.
Dadurch, so meinte Berengar, würde auch das Erbrecht auf seinen Stamm
übergehen. Aber Adelheid wies diese Zumutung zurück, zumal da das
Jahr ihrer Witwentrauer noch nicht verstrichen war.
Bald trat nun Berengar als Adelheids erbittertster Feind auf; Be¬
leidigung über Beleidigung, Gewaltthat über Gewaltthat mußte die un¬
glückliche Frau erleiden. Man beraubte sie ihres Goldes, ihres Schmuckes,
ihres Gefolges, zuletzt auch ihrer Freiheit. Wenige Monate nach dem
Tode ihres Gemahls wurde sie zu Como in einen Kerker geworfen. Hier
war sie den ärgsten Mißhandlungen ausgesetzt; man raufte ihr das Haar
und beschimpfte sie mit Schlägen und Fußtritten. Später übergab Berengar
die Gefangene einem seiner Grafen, der sie in der Burg Garda, an dem
gleichnamigen See bewahren sollte. Hier verlebte Adelheid in einem
grauenhaften Kerker vier Monate ihres Lebens, nur eine Magd und ein
Priester hatten Zutritt zu ihr; Unsägliches hat die junge Königin damals
erduldet.
Das Gerücht von diesen Dingen lies durch die Welt und erregte die
Gemüter. Allgemein war die Teilnahme für die unglückliche Königin.
In König Ottos Seele aber entstand sogleich der Entschluß, der verfolgten
Unschuld beizustehen. Hierzu trieb ihn namentlich der Umstand, daß Adel¬
heid eine burgundische Prinzessin war und er selbst mit dem burgundischen
Königshause verwandt war. Sodann aber hoffte er, wenn er Adelheid
errettete, auch das Königreich Italien in seine Gewalt zu bekommen. Durch
den Tod seiner ersten Gemahlin, der tugendhaften Königin Editha, war er
Witwer geworden, und darum beschloß er, der jungen Königin, die im Kerker
schmachtete, seine Hand und seinen Thron anzubieten.
Begleitet von seinem Sohne Ludolf und seinem Bruder, dem Bayern¬
herzog Heinrich, zog Otto mit einem stattlichen Heere über die Alpen nach
Italien. Berengar floh vor Schrecken, und die Einwohner von Pavia,
der Hauptstadt des Landes, nahmen den fremden Herren mit Freuden in
ihren Mauern auf. Hier erschienen bald die geistlichen und weltlichen
Großen des italischen Reiches und huldigten Otto als ihrem Könige.
Noch ehe der deutsche König den italischen Boden betreten hatte,
war Adelheid auf wunderbare Weise aus ihrem Kerker befreit worden.
Der treue Priester und die Dienerin, welche bei Adelheid geblieben waren,
hatten unter der Erde einen Gang gegraben, der aus dem Turm ins
Freie führte. Aus diesem Wege entkam die Königin zur Nachtzeit, von
den Gefährten ihrer Gefangenschaft begleitet. Noch in derselben Nacht
wurde die Flucht fortgesetzt, soweit die Füße die Königin tragen mochten.
Hellwig und Hirt, deutsches Lesebuch, VI. 10