54 A. Erzählende Prosa. IV. Vaterländische Sagen und Geschichten.
Glied, nicht einer! Der Aufruf wurde wiederholt. Kein Fuß bewegte sich;
und wollte der Kommandant geplündert haben, fo hätte er müssen selber
gehen. Aber es war niemand lieber als ihm, daß die Sache also ablief,
das ist leicht zu bemerken.
Als die Bürger das erfuhren, war es ihnen zu Mute wie einein,
der aus einem schweren Traum erwacht. Ihre Freude war nicht zu be¬
schreiben. Sie schickten sogleich eine Gesandtschaft an den Kommandanten,
ließen ihm für diese Milde und Großmut danken und boten ihm aus
Dankbarkeit ein großes Geschenk an. Wer weiß, was mancher gethan
hätte! Aber der Kommandant schlug es ab und sagte, er lasse sich eine
gute That nicht nnt Geld bezahlen. „Nur zum Andenken," setzte er hinzu,
„erbitte ich mir von euch eine silberne Münze, auf welcher die Stadt Hers¬
feld vorgestellt ist und der heutige Auftritt. Dies soll das Geschenk sein,
welches ich meiner künftigen Gattin aus dem Kriege mitbringen will."
Dies ist geschehen im Februar des Jahres 1807, und so etwas ist
des Lesens zweimal wert.
IV. Vaterländische Sagen und Geschichten.
33. Die Springwurzel.
Von den Brüdern Grimm. Deutsche Sagen.
Vorzeiten hütete ein Schäfersmann friedlich auf dem Köterberg in
der Nähe der Weser seine Herde. Da stand, als er sich einmal umwandte,
ein prächtiges Königsfräulein vor ihm und sprach: „Nimm die Spring¬
wurzel und folge mir nach!" Die Springwurzel erhält man dadurch,
daß man einem Grünspecht, einer Elster oder einem Wiedehopf sein Nest
mit einem Holze zukeilt; der Vogel, wie er das bemerkt, fliegt alsbald
fort und weiß die wunderbare Wurzel zu finden, die ein Mensch noch
immer vergeblich gesucht hat. Er bringt sie im Schnabel und will sein
Nest damit wieder öffnen; denn hält er sie vor den Holzkeil, so springt er
heraus wie vom stärksten Schlage getrieben. Hat man sich versteckt und
macht nun, sobald er herankommt, einen großen Lärm, so läßt er sie er¬
schreckt fallen. Man kann aber auch nur ein weißes oder rotes Tuch
unter das Nest breiten, so wirft er sie darauf, sobald er sie gebraucht hat.
Eine solche Springwurzel besaß der Hirt, ließ nun seine Tiere sich
umhertreiben und folgte dem Fräulein. Sie führte ihn bei einer Höhle
in den Berg hinein; kamen sie zu einem Gange mit verschlossener Thür,
so mußte er seine Wurzel vorhalten, und alsbald sprang sie krachend aus.
Sie gingen immer fort, bis sie etwa in die Mitte des Berges gelangten,
da saßen noch zwei Jungfrauen und spannen emsig; der Böse war auch