Full text: [Abt. 2 = Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Quinta, [Schülerband])

172 B. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder. 
bis es zusammenfällt und mit bleichen Blättern die Stelle bedeckt, wo 
es geblühet hat. 
Das süße Dornröschen ist schon lange mit den letzten Nachtigallen¬ 
tönen entschwebt; die leichten, bunten Geißblattranken flattern mit den 
lustigen Finken davon, und das helle freundliche Rotkehlchen nimmt die 
bleiche, schwermütige Anemone mit sich nach wärmeren Zonen und mil¬ 
deren Lüften. Die Glockenblume aber schwingt ihr feines Teilchen und 
läßt zum letzten Male ihre frommen Glöckchen durch den Wald er¬ 
klingen und rufen: „Lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald! Wie 
bald, wie bald entflieht die Freud' und kommt das Leid und naht des 
Herbstes trübe Zeit! Der Herbst, der Herbst ist rauh und kalt! Lebe 
wohl, lebe wohl, du schöner Wald!" — „Vergiß mein nicht! Vergiß 
mein nicht!" haucht es aus dem süßen, blauen Blümchen, das am 
Bache blühte, und der holde Blumenengel, der es bewohnte, fliegt mit 
dem letzten Lerchenliede auf den lichten Wolken des klaren Herbsthimmels 
hinaus. An die Stelle aller dieser lieben Blumen treten die wunder¬ 
lichen Gesellen, die Pilze. Sie haben sich gar lustig schillernde Mäntel¬ 
chen umgehängt, rote und gelbe und buntgefleckte, sind aber trotzdem 
der großen Mehrzahl nach nichtsnutzige Gesellen, welche mit ihren faulen 
Dünsten die reine Luft des Waldes vergiften. 
Stürmischer wird der Wind, schon decken kalte Schneeflocken zu¬ 
weilen den Boden; der Winter zieht mit starker Macht heran, den 
letzten Kampf mit seinem Feinde, dem Sommer, auszufechten. In 
wildem Streite schlagen die Äste knarrend zusammen, aus den finstern 
Felsenschluchten stürzen die Wildbäche brausend hervor, der Regen strömt, 
die ganze Gegend ächzt, der Sommer unterliegt. Im Walde zieht sieg¬ 
reich der Winter ein und krönt mit einem Diadem von glänzenden Eis¬ 
zapfen den Tannenbaum zum Herrn und König des Waldes. 
106. Die Schwalbe. 
Bon Rudolf Meyer. Tierzeichnungen. Zürich, 1833. 
Ans meinem Fenster seh' ich ins Freie hinaus, zu dem blauen 
Strom, auf grüne, von hellen Bächen durchzogene Matten und hin 
zum Gelände, wo Kornfelder und Wiesen wechseln und die Fenster der 
Hütten, belebt im Strahl der Abendsonne, unter dem Schirm der Apfel¬ 
bäume herüberäugeln. Schwer beladene Erntewagen, mit bunten Kränzen 
geschmückt, ziehen heim; Schnitter folgen scherzend und singend. Der 
Storch schwingt sich vom Neste auf und übt seine Jungen im Fliegen. 
Die Schwalben schwimmen in der Luft, durchschneiden sie in weiten 
Kreisen immer mit gespannten Flügeln, tauchen wieder unter auf den 
Fluß und gleiten über seine Fläche hin. Im Fluge haschen sie die 
Mücken weg, im Fluge locken sie einander mit hellem Laut; die lau¬ 
schende Welle erspringt sie nicht; dem Falken entgehen sie leicht und 
warnen vor ihm die andern Vögel. Die freie Schwalbe vertraut dem 
Menschen. Unter dem Gesimse meines Daches hat eine ihren Erker 
angemauert; die Jungen strecken die Köpfe hervor und rufen sie; da
	        
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