176 L. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder.
herrschen. Die Jäger von Eblingen sind von jeher wegen ihrer
Weidmannsfähigkeit der ganzen Gegend bekannt gewesen; sie verstehen
aber auch als echte Jäger ihr Wild zu fesseln und tragen Sorge, daß
ihren Vögeln das ganze Jahr der Tisch gedeckt sei. Die Beizstellen
sind aus Bäumen und am Boden so gewählt, daß die Jäger von ihren
Wohnungen unten am See aus sie beobachten können. Mit ihren
Fernröhren treten sie dort ans Fenster und überblicken, wenn sie die
Adler erwarten, den Lockplatz. Bemerken sie einen bei der Lockspeise,
so haben sie zwar noch eine Stunde weit durch Büsche und Felsen zu
klettern, aber nur selten entgeht ihnen die Beute; denn wenn diese sich
einmal auf dem Fraße niedergelassen hat, so bleibt sie Stunden lang sitzen,
und mit der Sättigung läßt gewöhnlich ihre Vorsicht nach.
Minder gewaltig als die Lämmergeier sind die Steinadler, doch
von stolzerer, würdigerer Haltung, die das Gepräge der Freiheit und
Unabhängigkeit trägt. Auch an Sinnenschärfe, Gewandtheit und List
möchten sie wohl höher stehen als die Lämmergeier, die nie wie die
Adler zum Sinnbild eines königlichen Charakters gewählt wurden.
108. Die Vogelwelt.
Von Hermann Masius. Naturstndien. Leipzig, 1852.
Unter den mannigfaltigen Geschlechtern der Tierwelt haben die Vögel
von jeher vorzugsweise die Aufmerksamkeit und das Wohlgefallen des
Menschen erregt. Der Lerche, dem Storch, der Nachtigall, der Schwalbe
erklingen seit uralten Tagen Chöre von Liedern, und der Volksmund
begrüßt sie auf ihrer lustigen Fahrt mit tausend trauten Wauder-
sprüchen. Ohne die Vögel würde selbst der Frühling trauern, sowie
durch ihre Flucht der Winter um so unheimlicher und öder wird. Nun
sind freilich die Säugetiere vollkommener gebildet, auch haben ihre
geistigen Anlagen einen größeren Umfang. Die bildende Natur hat
außer dem Menschen vielleicht nichts Edleres hervorgebracht, als das
Roß, „das den Streit von ferne riecht", und gewiß sind Elefant und
Löwe ungleich großartigere, Windspiel und Gazelle ungleich schönere
Tiergestalten als irgend ein Vogel. Aber dessenungeachtet scheint die
Klasse der Säugetiere sich nur in einzelnen wenigen Arten zu ihrer
Vollendung zu erheben; viele von ihnen sind entschieden unschön und
widerwärtig. Unter den Vögeln dagegen giebt es kaum einen, den
man häßlich nennen dürfte, und bei allen sonstigen Mängeln ihres
Körperbaues zeichnen sich diese geflügelten Völker des Luftreichs durch
gewisse Eigentümlichkeiten aus, die ihnen die Teilnahme des gemüt¬
vollen Betrachters neben und teilweise selbst vor jener höheren Tier¬
klasse sichern.
Schon das Nest des Vogels, dieses weiche Bett im grünen Laub-
versteck, von der sorgenden Liebe gewoben und gehütet, von den Liedern
der Liebe umschwebt, welch ein einziges BildI Welches Wunder der
Natur, das lieblicher und sinniger wäre? Nach dem Vogelnest zucken
Kindern die weichen Herzen und Hände, und der Mann bleibt.- be-