Full text: (Für das 6. und 7., resp. 8. Schuljahr) (Band 3, [Schülerband])

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82. Das Rotkehlchen. 
Nasch das letzte Lied gesungen, 
eh' das Leben ganz entwich, 
eh' in grauen Dämmerungen 
Winter alles kalt verschlungen: 
Blumen, Lieder, Herbst und inich, 
Di ii g elfte dt. 
Während der Jubel des ermacheudeu Lebens im Frühjahr 
uns die Brust hebt und uns unwillkürlich mit einstimmen läßt in 
das Wonne- und Freudenjauchzen aller lebendigen Wesen, zieht im 
Spätherbst ebenso unwiderstehlich die Trauer und der Schmerz des 
Scheidens bei uns ein. Uns wird so bang, so sehnend zu Mut, 
auch wir möchten mit den Vöglein hinaus und nehmen trauernd 
Abschied von allen den Freuden und dem Leben der milden 
Jahreszeit. 
Das Bächlein trieb hinunter 
der Wellen rasche Tänze, 
nird rauschend flocht und bunter 
der Herbst der Wehmut Kränze. 
Doch aus des Wald's Verdüstern, 
den Stimmen des Vergehens, 
hört' ich die Hoffnung flüstern 
des ew'gen Wiedersehens. 
(Lenau, Herbstlieder.) 
Gleich dem Dichter wollen aber auch mir eben aus dem all- 
gemeinen Scheiden, „den Stimmen des Vergehens", die Hoffnung 
eines schönen Wiedersehens, einer neuen Frühlingszeit schöpfen, 
und uns ungestört der Genüsse erfreuen, welche uns ein, leider 
nur zu kurzer schnöder Herbstnachmittag bietet, besonders der Be¬ 
obachtung eines lieblichen Vögelchens. 
Das Rotkehlchen ist es, eine der freundlichsten Erscheinungen 
unserer einheimischen Natur, von dem ich es behaupten möchte, 
daß fast kein anderes Geschöpf so viele liebenswürdige Eigenschaften 
im Umgänge mit den: Menschen zeigt, als gerade dies kleine Tier. 
Schon in der Freiheit irrt Walde oder irrt Garten ist es so zu¬ 
traulich rtrib zeigt so wenig Scheu, daß es nicht bloß im Gebüsch 
der besuchtesten Laube nistet, sondern auch, während die Gesell¬ 
schaft am Tische sitzt, arglos und ohlte Furcht herbeifliegt und 
eilt Körnchen für seine Jungen sich ausbittet. Auf dem Anstande, 
des Abends, habe ich eilt Rotkehlchen beobachtet, welches nüch stunden¬ 
lang rings von allen Seiten betrachtete, während es in der dich- 
Mailänder, Deutsches Lesebuch. III. 9
	        
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