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verbreitet. Freigrafen und Freischöppen erkannten sich an ge¬
wissen Zeichen.
Hatte jemand einen Raub oder Mord begangen, war er der
Zauberei oder Ketzerei verdächtig, so hatte er Ursache genug,
vor dem furchtbaren Richterstuhle der Wissenden zu zittern,
selbst dann, wenn er vor einem ordentlichen Richter der Strafe
schon entgangen war. Er wurde von einem der Freischöppen
dem heimlichen Gerichte angezeigt, der zugleich mit einem Eide
beschwur, dass das Verbrechen wirklich begangen sei. Die
Vorladung geschah aber nicht öffentlich, sondern wurde des
Nachts vor dem Thore oder der Hausthüre des Beklagten an¬
geschlagen. Dieser mußte sich dann zur bestimmten Zeit an
dem bestimmten Orte einfinden; es wartete seiner schon ein
Abgeordneter der heiligen Feme, der ihn mit verbundenen
Augen an den geheimen Ort führte, wo die Richter versammelt
waren. Gemeiniglich hielten sie ihre Sitzungen des Nachts in
einem dichten Walde oder in einer Höhle oder einem unter¬
irdischen Gewölbe. Hier saßen sie vermummt bei schwachem
Lichte in schauerlichem Halbdunkel, und tiefe Stille herrschte
ringsumher. Der Freigraf allein erhob seine Stimme, hielt dem
Vorgeladenen das Verbrechen vor, dessen er angeklagt war und
forderte ihn auf, sich zu verteidigen. Konnte er sich mit Grund
verantworten, so wurde er freigesprochen und, ebenso geheimnis¬
voll als er gekommen war, wieder zurückgeführt. Wurde er
aber seiner Sehuld überwiesen, so ward er zum Tode verurteilt.
Noch in derselben Stunde, sobald er sein Gebet gesprochen und
seine Seele Gott empfohlen hatte, stieß man ihn mit einem
Dolche nieder oder knüpfte ihn auf an einem Baume. Gewöhn¬
lich verrichtete der jüngste Schöppe das Henkeramt; ein Dolch,
in den Baum gestoßen, sagte, daß die heilige Feme gerichtet
habe; sonst aber erfuhr niemand, wer der Henker gewesen sei.
Stellte sich der Angeklagte nicht auf das erste Mal, so
wurde die Vorladung noch zweimal wiederholt. Blieb er auch
das dritte Mal aus, so folgte die Verurteilung, und einige der
Freischöppen erhielten den Auftrag, das Strafgericht zu voll¬
ziehen. Von nun an wurde er von unsichtbaren Händen ver¬
folgt bis an seinen Tod.
Die Sitzungen der Feme wurden aber nicht immer heim-