Full text: [Teil 1 = Sexta, [Schülerband]] (Teil 1 = Sexta, [Schülerband])

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selbst die Franzosen staunten und sagten: „Welcher Mut! das hätte Kaiser 
Napoleon nie gewagt!" 
5. Leutseligkeit. Aus den unzähligen Beispielen hierfür seien nur 
diese wenigen erzählt. — Vor Paris überraschte der Kaiser einst bei der 
Vorpostenkette einen Soldaten, der ins Lesen eines Briefes vertieft war 
und nur eben noch rechtzeitig die übliche Ehrerweisung machen konnte. 
Freundlich fragte er den Verwirrten: „Nun, ein Brief vom Liebchen?" — 
„Nein, Majestät", antwortete ernst der Soldat, „von meiner Mutter." — 
„Darf ich ihn lesen?" fragte der Kaiser. — „Zu Befehl, Majestät!" sagte 
der Mann und überreichte den Brief. Der war wirklich von der Mutter, 
und die schrieb darin: in kurzem habe die Schwester Hochzeit und es sei 
recht traurig, daß er, nach des Vaters Tode der Vertreter der Familie, 
nicht dazu kommen könne; gehe es aber durchaus nicht, so solle er wenigstens 
den Franzosen, die daran schuld seien, tüchtig aufs große Maul hauen. 
Schweigend gab der Kaiser den Brief zurück und ritt weiter. Der Soldat 
war schon in großer Angst; da erhielt er andern Tags vierzehn Tage 
Urlaub und freie Hin- und Rückfahrt nach der Heimat. — Einst kam ein 
Invalide durch Berlin und humpelte auch bis vors kaiserliche Palais unter 
den Linden, um den Kaiser zu sehen. Dieser sah vom Fenster aus die 
Leidensgestalt, ließ ihn hereinholen und fragte ihn aus. Der Mann hatte 
alle drei Feldzüge mitgemacht, hatte sich das Eiserne Kreuz erworben, war 
bei Sedan schwer verwundet worden und nach langer Krankenpflege jetzt 
auf der Heimreise. Der Kaiser steckte einen Hundertmarkschein in einen 
Briefumschlag, schrieb seinen Namen drauf, gab es dem Invaliden und 
ließ ihn durch einen kaiserlichen Wagen zum Bahnhof bringen, von wo er 
erster Klasse heimfahren durfte. Dann verschaffte er ihm auch noch eine 
auskömmliche Pension. — Auch gegen Kinder war der Kaiser sehr freund¬ 
lich. In Ems hatte er sich einst beim Spaziergange hingesetzt, da kommt 
ein vierjähriger Knabe angelaufen und fragt ganz zutraulich: „Bist du 
wirklich der Kaiser Wilhelm?" — „Ja, mein Kleiner", erwiderte er, „der 
bin ich; aber wer bist denn du, und was willst du einmal werden, wenn 
du groß bist?" Fest und sicher antwortete der Kleine: „Ich werde roter 
Husar." Da klopfte der Kaiser dem Bübchen freundlich auf die Schulter 
und sagte: „Nun so melde dich nur bei mir, wenn du erwachsen bist; ich 
will schon dafür sorgen, daß du bei den roten Husaren ankommst." 
Sehr rücksichtsvoll war der Kaiser gegen andere. Im Bade Gastein 
^ er einst, unter ihm wohne ein kranker Badegast, der an Schlaflosig- 
teit leide. Nun sollte er selbst auch an Regentagen sich Bewegung machen 
und durch seine Gemächer hin und her wandeln. Da überraschte ihn sein 
Kammerdiener, wie er sich bückend und im Schweiße seines Angesichts lauter 
Teppiche über die Fußböden breitete. „Aber Majestät", sagte der Diener,
	        
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