A. Prosa.
Deutsche Sagen und Schwänke.
i. Wie Graun der Gär von Reineke bethört wird.
Braun der Bär machte sich zu Reineke dem Fuchs auf den Weg
und trabte gemütlich brummend durch Wald und Feld, gelangte dann in
eine große Wüste, welche er durchzog, und kam endlich an das Gebirge,
in dessen tiefer Waldschlucht Reinekes festes Haus, Malepartus, ge-,
legen war. Ohne zu säumen, trabte er nach dieser aufs festeste ver¬
wahrten Burg des Fuchses, die den Schlaukopf gegen alle Gefahren
und Verfolgungen sicher stellte, und fand die Eingangspforte fest ver¬
schlossen. Er klopfte mit seinen Tatzen an dieselbe und rief: „He! Vetter
Reineke! Öffne unverzüglich die Thüre, denn ich stehe hier als Gesandter
des Königs Nobel, der dich vor Gericht laden läßt, damit man deine
Sache nach den Rechten verhandele. Solltest du dich weigern, so ist dir
als einem Ungehorsamen und Rechtsbrüchigen Galgen und Rad bestimmt.
Ich rate dir also freundschaftlich, keine Winkelzüge zu machen und mir
gutwillig zu folgen." Reineke lag lauernd in seiner Burg und fing
mit gespitzten Ohren jedes Wort des Bären auf. Dann sagte er leise
vor sich hin: „Könnt' ich doch diesem plumpen Prahlhans einmal tüchtig
den Pelz waschen!" Mit diesem Gedanken zog er sich einstweilen noch
tiefer in die Jrrgänge seiner Burg zurück, um zu überlegen, wie er
dem Bären einen recht empfindlichen Schabernack spielen könne. Das
Innere der Burg Malepartus war ein wahrer Kunstbau von Jrrgängen,
Höhlen, Schlupfwinkeln und verborgenen Kellern mit versteckten Ein¬
und Ausgängen, sodaß der listige Bewohner in der Gefahr immer neue
Zufluchtsstätten finden oder nach außen entwischen konnte.
Als Reineke eine kurze Zeit darüber nachgedacht hatte, wie er dem
Bären einen empfindlichen Streich spielen wolle, zog er die Nase kraus
und grinste verschmitzt vor sich hin, als ob er sich freue, eine rechte
Schelmerei ersonnen zu haben. Dann schlich er sich vorsichtig an ein
verstecktes Fensterchen und blinzelte hinaus, um zu sehen, ob außer
Braun noch andere Widersacher zugegen seien und ihn vielleicht in einen
Lesebuch für höhere Lehranstalten II. 1