97. HlN Von Heinrich Seidel.
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jTber jenen blauen Bergen
sah ich jüngst den Frühling lauschen.
Ans des Hügels sanfte Rundung
stützte er die ros'gen Hände,
5 und in seinem schönen, goldnen,
lang hinfließenden (Mode
trug er einen Kranz von Blumen.
Und er lächelte und nickte,
winkte dann mit seiner Rechten,
10 und mir war, als kläng' ein Rufen
durch der Lerchen Jubilieren
und ein Windhauch brächt' ein Düften,
wie von Veilchen hergetragen.
Still verblaßte dann das Bildnis
15 und verschwamm und stand am Hügel
wie ein schimmernd weißes Wölkchen.
98. Nach Heinrich Schacht.
I?er liebte sie nicht, diese holde Botin des Frühlings, die schon
im Februar über den Feldern und Fluren der Heimat hoch
in den Wolken schwebt und von dort ihre Lieder durch die Lüfte
schmettert? Ihren ermunternden und erfrischenden Weisen lauscht
nicht nur der sinnige Landmann; auch der dem Trubel der Großstadt
entflohene Mensch hört gern ihren Gruß ans den Lüften. Dem sich
im wohltuenden Schein der Frühlingssonne ergehenden Kranken senkt
sich beim Anhören ihrer Lieder neue Hoffmlng auf Genesung ins Herz,
und selbst der mutwillige Hirtenbnbe folgt unverwandten Auges den
luftigen Bahnen der Sängerin.
Wer aber die überwältigende Wirkung des Lerchengesangs an
seinem Herzen spüren will, der muß auf den Genuß eines Morgen¬
schlafs verzichten und noch beim Glanz der Sterne hinanswandern
ins freie Feld. Schon haben allenthalben die Sängerinnen ihre Feier¬
lieder begonnen, und bald nmflntet uns ein Meer von entzückenden
Tönen. Das wirbelt, trillert, flötet, schwirrt und schmettert in einem
fort, neben uns ans jungem Saatengrün, über uns in heiterer Him¬
melsluft.
Ja, ein köstlicher Sänger ist die Lerche, dem unsere Zuneigung
im vollsten Maße angehört. Sie ist freilich ein Sommergast; doch gibt
Macker, Lesebuch. A3. V. Teil. 11