Full text: Anhang zum 1. Band de[s] Lesebuch[s] für Latein- und Realschulen (Band 1, Anhang, [Schülerband])

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Haar- und Wollbüschelchen, Federn und dergleichen werden verwendet, 
ebenso allerlei Abfälle, Reste gewobener Stoffe, Zwirnendchen, selbst Papier; 
es sind Nester vom Pirol und Buchfinken aufgefunden worden, in denen 
Papierstückchen auf das zierlichste verwertet waren. 
Bisweilen aber entscheidet nicht die Nähe des Baumaterials, sondern die 
Sicherheit, die es gewährt. Wenn die Schwanzmeise ans der Birke wohnt, 
ist es für sie das bequemste, zugleich aber auch das sicherste, ihr Nest mit 
der weißen Oberrinde des Baumes zu überziehen, so daß es ein Stück 
von diesem zu sein scheint. Nistet sie jedoch zwischen grünen Hopfen- und 
Epheuranken, so bedeckt sie es von außen mit grünen Laub- und Leber¬ 
moosen. Legt der Buchfink sein Nest in den Gabeln alter Obstbäume an, 
so überzieht er es wohlweislich mit solchen Flechten, wie sie den alten 
Stamm des Baumes bedecken; baut er aber ans der glattrindigen Roßkastanie, 
so besteht sein Nest außen nur aus graulichen Pflanzenfasern, die kaum 
gegen die Rinde des Baumes abstechen. Ein ganz besonderes Talent, 
durch Wahl des Platzes und des Baustoffs sein Nestchen zu verstecken, 
entwickelt der Zeisig, so daß man im Mittelalter glaubte, er lege einen 
Zauber hinein, wodurch es unsichtbar werde; der Besitz eines solchen Nestes 
galt für höchst begehrenswert, da es den Träger gleichfalls unsichtbar 
machen sollte. Wenn dieselbe Vogelart in verschiedenen Himmelsstrichen 
brütet, so ändert sich dementsprechend ihr Baustil. Im hohen Norden 
pflegt der Kiefernkreuzschnabel seine Wohnung viel größer und dickwandiger 
als bei uns zu machen und oben zu überwölben, was ihm hierzulande 
nicht einfällt. Die Wahl des Nistorts ist äußerst verschieden; sie hängt ab 
von der Umgebung, in der ein Vogel lebt. In gemäßigten Klimaten, wo es 
keine oder nur wenig kletternde Raubtiere giebt, genügtes, wenn der Vogel 
sein Nest auf Felsspitzen, Bäumen u. dergl. anlegt und es so den Nachstel¬ 
lungen möglichst entzieht. Anders liegen die Verhältnisse in den heißen Ländern; 
dort giebt es viele kletternde Schlangen und Säugetiere, besonders Affen, die 
als äußerst gewandte Eierdiebe offenen Nesternigefährlich sind. Da müssen die 
Vögel ihre Brutstätten so wählen, daß sie für die Feinde nur sehr schwer zu¬ 
gänglich sind. So befestigen die amerikanischen Stärlinge ihr beutelförmiges 
Nest gern an die Spitze dürrer Zweige, die kein Affe zu betreten wagt. 
Der Baumsteiger in Brasilien hängt es in Gestalt eines Bündels an die 
Spitze einer dünnen Schlingpflanze, und da sich das Schlupfloch unten 
befindet, so kann nicht einmal die gewandteste Baumschlange zu den Eiern 
gelangen. Ganz ähnlich wählen sich die afrikanischen Goldweber die 
Spitzen schlanker überhängender Zweige, um daran ihr schwebendes Nest 
anzulegen, und manche Webervögel fügen in die Wandungen ihrer Nester 
überdies noch Dornen mit der Spitze nach außen ein. Daß ein angeerbter 
Instinkt die Vögel beim,Nesterbauen leite, ist ein landläufiger Irrtum. 
Sie müssen die Baukunst, wie den Gesang und die beste Art zu wandern 
von älteren, erfahreneren Vögeln erlernen. Es ist leicht zu beobachten, daß 
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