Full text: Anhang zum 1. Band de[s] Lesebuch[s] für Latein- und Realschulen (Band 1, Anhang, [Schülerband])

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geschickte Hand des Steuermanns weiß die Spitze des Bootes genau auf 
Wind und See zu halten und dadurch die Hauptgefahr zu beseitigen, daß 
das Boot quer geworfen und gekentert wird. Langsam, aber stätig kommt 
es dem gestrandeten Schiff näher, über welches die See bereits wie über 
eine Klippe bricht. Jeden Augenblick droht es zu zerschellen. Seine 
geängstete Mannschaft hat sich mit Tauen festgebunden, um nicht fort- 
gespült zu werden, und ihre Blicke folgen mit tödlicher Spannung dem 
langsamen Vordringen der mutigen Retter. 
Da zeigt sich am bleifarbigen Himmel ein gelbgrauer Streifen. 
Auf dem Gesicht des Vormanns zuckt es, als ob geheime Angst sein Herz 
bewegte. Der Streifen ist das drohende Zeichen einer Hagelbö, wie' sie der 
herbstliche Nordweststurm in seinem Gefolge führt, und der erfahrene See¬ 
mann kennt nur zu sehr ihre vernichtende Gewalt. „Rudert, Leute, rudert 
für euer Leben, dort kommt eine Hagelbö!" stößt er mit gepreßter 
Stimme hervor, und fast scheint es, als ob die eisige Ruhe von ihm 
gewichen sei, die bisher alle seine Bewegungen kennzeichnete. 
Zischend durchschneidet das Boot die brandenden Wogen; kaum 
noch 200 Schritte ist es von dem Wrack entfernt. Schon erhellt ein 
Hoffnungsstrahl das bleiche Antlitz der Schiffbrüchigen; noch fünf Minuten 
und alles ist gut. Da bricht auf einmal die Hagelbö herein! Die Luft 
verfinstert sich, die scharfen Schloßen rasseln auf den metallenen Luflkasten 
des Bootes wie der Wirbel der Todestrommel, der Sturm rast heulend durch 
die Lüfte, er peitscht die Wogen und türmt sie zu Bergen. Alles scheint 
verloren. „Den Anker über Bord! Nieder im Boot!" befiehlt der Vor¬ 
mann. Der Anker fällt; die Leute lassen die Ruder beiklappen und 
hocken sich nieder, um den Windsang zu vermindern. Der Vormann 
allein steht aufrecht im Boote. Beschlich einen Augenblick wirklich Furcht 
sein Herz, so ist sie jetzt wieder gebannt. Ihn kümmert nicht mehr der 
Sturm, nicht das brausende Meer. Er fühlt nicht, wie der eisige Hagel 
ihm messerscharf in das Gesicht schneidet; er fürchtet nicht mehr für das 
Boot, wohl aber für das gestrandete Schiff. Starr ist sein Blick auf die 
Stelle gerichtet, wo er es zuletzt sah, und was sein Herz bewegt, ist nur 
der Gedanke, daß es jetzt zerbrechen und die Hilfe zu spät kommen werde. 
Eine bange Viertelstunde verstrich. Da klärt sich die Luft. Die Gewalt 
des Sturmes läßt nach, und die Formen des Schiffes tauchen wieder aus 
dem Nebel hervor; es hat den furchtbaren Schlag überstanden. 
Die Bö ist vorübergegangen, und es tritt eine Pause der Ruhe ein. 
Doch sie währt nur kurze Zeit; schon steht das Anzeichen einer zweiten 
Bö am Horizonte, und ehe sie herankonnnt, nmß das Rettungswerk voll¬ 
bracht sein. Mit verdoppelter Kraft rudern die wackeren Männer auf 
die gegen den Wind geschützte Seite des Wracks zu. Ein Tau wird 
ihnen zugeworfen, aber sie können an das Schiff nicht herankommen. 
Wie ein Ball wird das Boot emporgeschleudert auf den Wogen, und dann
	        
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