Deutsche Mystik im 14. Jahrhundert. 87 
sie aus, „bin ich wieder hier?" Und nun empfing der Meister ihre Beleh¬ 
rung, alle Herrlichkeit Gottes schloß sich vor ihm auf und wie man dazu 
gelangen könne, lind sie redete soviel von Gott, daß ihr Beichtvater 
immerzu sprach: „Liebe Tochter, rede weiter." Und sie sagte ihm soviel 
von der Größe Gottes und von der Allmacht Gottes und von der Vor¬ 
sehung Gottes, daß er von Sinnen kam und daß man ihn in eine heim¬ 
liche Zelle tragen mußte und er da lange lag, ehe er wieder zu sich kam. 
„Tochter," sprach er, „gelobt sei Gott, der dich erschuf! Du hast mir den 
Weg gezeigt zu meiner ewigen Seligkeit. Nun flehe ich um der Liebe 
willen, die Gott für dich hat, hilf mir mit Worten und mit Werken, daß 
ich ein Bleiben da gewinne, wo ich jetzo bin." Sie aber erwiderte, das 
könne nicht geschehen, er sei noch nicht reif dazu, er würde rasend werden, 
wenn er es erzwingen wollte. 
Wie mußte einem Laien zu Mute werden, wenn er diese Erzählung 
las oder hörte. Der gelehrte Meister Eckard, der Stolz seines Ordens, 
der zu Paris die ganze theologische Bildung seiner Zeit eingesogen, der 
setzt sich selbst herab gegenüber einer einfachen Frau, die nichts aufzuweisen 
hat, als ihre unendliche, unaussprechliche Sehnsucht imch^ dem Höchsten, 
ihr nnbezwingliches Verlangen nach der Seligkeit, dem sie alles opfert. 
Also es war denkbar, daß ein Laie durch eigene Kraft und durch die Gnade 
Gottes einen Zustand der Vollkommenheit erreichte, um den ihn die gelehr¬ 
testen Geistlichen beneiden mußten. 
So kam denn dies noch hinzu zu den Geißlerfahrten, zu dem Ketzer- 
wesen: ein starker religiöser Drang der Laien, ein leidenschaftliches Aufwärts¬ 
streben zu Gott, eilt schmerzliches Ringen nach der Seligkeit, aber ohne 
besondere Zeremonien, wie bei den Geißlern, ohne Empörung gegen die 
Kirche, wie bei den Ketzern. 
Es bildet sich am Oberrhein aus Laien und Geistlichen eine stille Ge¬ 
meinde der Frommen und Gottergebenen, welche die wunderbarsten Erschei¬ 
nungen darbietet. Man führt ein Leben, wie man es in den Legenden der 
Heiligen beschrieben fand. Strenge asketische Übungen werden vorgenom¬ 
men, man sucht mit der Zurückziehung von allem Sinnlichen Ernst zu 
machen, man bemüht sich, überirdische Träume und Visionen zu haben. 
Diese sind niemals schreckhaft und ungeheuerlich, sie haben stets etwas 
Mildes, Anmutiges und Sanftes. In das religiöse Leben kommt ein neuer 
Zug der Innigkeit und ein Zug der Hingebung an die abstrakte Ge¬ 
dankenwelt. 
Die frommen Kreise treten mit einander in Beziehung, bestärken sich 
gegenseitig, tauschen ihre Erfahrungen aus, teilen sich in sorgfältiger Aufzeich¬ 
nung Träume und Visionen mit, verbreiten erbauliche Schriften unter ein¬ 
ander: alles ungefähr so, wie es in der pietistifcheu Gesellschaft des 18. Jahr¬ 
hunderts üblich war. Sie nannten sich „Gottesfrennde", mit einem Ausdruck, 
den Eckard von solchen gebraucht hatte, die zur Vereinigung mit Gott 
durchgedrungen seien. Diesen Zustand der Selbstenttäuschung und der „Ver-
	        
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