Odysseus.
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Noch hatte er uns nicht gesehen; als er aber die Glut in der Asche
anfschürte und die Helle Flamme aufschlug, da erblickte er seine unge¬
betenen Gäste. Einen Augenblick starrte er uns an; dann donnerte er
uns mit einer fürchterlichen Stimme entgegen: „Heda! wer seid ihr?
Wo kommt ihr her? Was für ein Gewerbe habt ihr?" Die Kniee
zitterten uns vor dem Gebrüll des Ungetüms. Dennoch faßte ich mich
geschwind und antwortete dreist: „Griechen sind wir, die von Troja
kommen und auf der Fahrt nach Hause von bösen Stürmen hierher
verschlagen worden sind. Da uns nun das Unglück verfolgt, flehen wir
dich an, uns zu beherbergen und uns ein Gastgeschenk zu geben, wie
es hilfebittenden Fremdlingen gebührt und wie die Götter es gern
sehen. Ehre du also, trefflicher Mann, die Götter; denn Zeus ist der
Rächer jegliches Frevels, der an einem reisenden Manne begangen wird."
„Hoho! du thörichter Fremdling," schrie der Cyklop uns entgegen,
„du scheinst uns schlecht zu kennen; hier ehrt niemand die Götter, und
von deinem Zeus wissen wir nichts; denn wir selbst sind ja viel mäch¬
tiger. Aus Furcht vor den: Gastvater Zeus werde ich euch wahrhaftig
nicht schonen. — Doch sage mir, wo bist du mit deinem Schiffe ge¬
landet? Das möchte ich gern wissen."
Ich merkte die Tücke. Frage nur, dachte ich; du sollst mich doch
nicht überlisten. — „Mein Schiff?" sagte ich laut. „Ach, das hat der
Sturm zerschellt, und hätten wir nicht schwinimen können, so wären
wir alle miteinander ertrunken." — „So!" brummte der Cyklop, und
— Götter! wer hätte das gedacht! — statt aller Antwort streckte er
beide Arme nach uns aus, packte zwei meiner Gefährten bei den Beinen,
zerriß und fraß sie auf mit Haut und Haaren. Unser Angstgeschrei
rührte ihn nicht, und nachdem er sich den Bauch mit Menschenfleisch
gefüllt und noch einen Kübel voll Milch zu der abscheulichen Mahlzeit
verschlungen hatte, streckte er sich ruhig zum Schlafen nieder.
Was thust du? sprach ich jetzt zu mir selbst, als ich das Ungeheuer
schnarchen hörte. Bohrst du ihm das Schwert ins Herz, ehe es erwacht?
— Aber nein! Wenn ich ihn tötete, wer öffnete uns dann die schwer
verrannnelte Thür? Der Anschlag wäre also nicht klug ersonnen ge¬
wesen; wir hätten uns selbst den jämmerlichsten Hungertod in ewigem
Gefängnisse bereitet. Wir mußten etwas Besseres ersinnen und er¬
warteten unter Furcht und Zweifeln den Anbruch des Tages.
Mit der Morgenröte erwachte auch der Cyklop; er legte frisches
Holz ans Feuer, molk seine Herde Stück für Stück und trat dann ohne
Umstände, als müßte es so sein, an uns heran, packte wieder zwei von
meinen lieben Gefährten und verzehrte sie. Hierauf stieß er den Stein
von der Thür zurück, trieb die Herde hinaus und schob den ungeheuren
Fels wieder vor. Da waren wir also abermals eingesperrt. Jetzt
Meyer u. Nagel, Deutsches Lesebuch für Realschulen. Auög. v. Teil II. 10