Full text: Für die Klasse V (Teil 2 = Unterstufe, [Schülerband])

Odysseus. 
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Unterdessen erwachte Odysseus auf dem feuchten Boden. Er sah sich 
um. Ein trüber Nebel umhüllte rings die wilde Gegend, und der Arme 
erkannte sein Vaterland nicht. Er wankte trostlos am Gestade umher 
und erforschte die Gegend. Da kam Athene in der Gestalt eines schonen 
Hirtenknaben auf ihn zu, einen Wurfspieß in der Hand und Sohlen an 
den Füßen. Freudig erblickte Odysseus den Knaben, und mit unsäg¬ 
lichem Entzücken erfuhr er von ihm, daß er in dem lieben, langersehnten 
Vaterlande sei. Dann gab sich Athene dein Helden zu erkennen und 
ließ sich mit ihm unter einem alten Ölbanme nieder, ferneren Rat mit 
ihm zu pflegen. So sehr sie ihm ihren Beistand versprach, so dringend 
empfahl sie ihm doch Vorsicht, weil der Freier über hundert seien. 
Vor allen Dingen, meinte sie, dürfe niemand etwas von seiner Ankunft 
ahnen, bevor er nicht unter der Hand seine Freunde kennen gelernt und 
eine Anzahl zuverlässiger Anhänger heimlich auf seine Seite gebracht 
habe. Darum wolle sie seine Gestalt umwandeln, damit er allen un¬ 
kenntlich sei, und ihm einen Anzug verschaffen, in welchem niemand auf 
der ganzen Insel den großen König erkennen solle. Sie berührte ihn 
daraus sanft mit dem Stabe, und sogleich schrumpfte das schwellende 
Fleisch um die schönen Glieder zusammen; es verhärtete sich die Haut 
in Runzeln wie bei einem Greise, der stolze Nacken bog sich, das braune 
Haar fiel aus, und blöde wurdet! die feurigen Augen, die sonst von 
Anmut strahlten. Ans den langen, glanzenden Gewändern, die in weiten 
Falten seinen Leib umschlangen, wurde ein grober, häßlicher Kittel 
zerlumpt und garstig eingeränchert, und als Mantel hängte sie ihm ein 
altes, schäbiges Hirschfell um. Den Bettleraufputz zu vollenden, ver¬ 
ehrte sie ihm noch einen hinten und vorn geflickten Ranzen an einem 
geflochtenen Tragbande und gab ihm einen Stab in die Hand. In 
diesem Aufzuge befahl sie ihm, den Sauhirten aufzusuchen, der einer 
der treuesten Anhänger des königlichen Hauses und ein Erzfeind der 
Freier sei, und von dem er bald mehr erfahren tverde; sie wolle unter¬ 
dessen dem jungen Telemach entgegeneilen, der soeben von Sparta 
zurückkehre, und dem die Freier in einem Hinterhalte zu Schiffe auf¬ 
lauerten; sie werde deren Anschläge vereiteln und hoffe, den Jüngling 
bald seinem Vater freudig in die Arme zu führen. So trennten sie 
sich, und Odysseus erklomm den rauhen Pfad über die waldbewachsenen 
Berghöhen nach der Richtung hin, wo ihm Athene die Wohnung des 
braven Sauhirten Eumäos bezeichnet hatte. 
Am nächsten Morgen kam auch der unterdes glücklich gelandete 
Telemach zu dem Hirten, den Odysseus schnell gefunden hatte, und wurde 
von jenem aufs herzlichste begrüßt. Dem unbekannten Bettler klopfte 
das Herz beim Anblick des schönen Sohnes mit freudigen Schlägen, 
doch bezwang er seine Freude. Mit der Ehrerbietung eines Armen
	        
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