H. Wagner, Das Heidekraut.
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Lass dir erzählen, wie es ihm geht, wie aus dem Aschenbrödel die
hübsche Prinzessin wird!
Der Wind wirft das Korn hin und her; der Sand deckt es zu;
der Kegen giebt ihm zu trinken. Es erwacht von seinem Schlafe,
streckt das Würzelchen aus und fasst festen Fuss im losen Boden.
Tiefer und tiefer lässt es seine Wurzeln hinabgehen, bis es drunten
Erdschichten trifft, die etwas feuchter sind. Von ihnen entnimmt
es mühsam seine Speise. Wie ein armes Waisenkind, das von allen
verlassen ist, muss es sich kümmerlich nähren. Tausend andere Ge¬
wächse, die gewöhnt sind, im Wald und auf der Wiese zu wachsen,
die auf gutem Boden und am Bachrande sprossen, würden umkom¬
men, wenn sie hierher versetzt würden in den unfruchtbaren Heide¬
sand. Das junge Heidekraut richtet sich nach den Verhältnissen
ein. Es hat in seinem kleinen Haushalt nur sehr dürftige Ein¬
nahmen, siehe, es beschränkt auch seine Ausgaben darnach.
Die Wurzeln sind, wie du weisst, die Einnehmer der Pflanze;
sie trinken das Wasser aus dem Boden. Die Blätter besorgen die
Ausgabe; sie verdunsten das Wasser wieder. Solche Gewächse, welche
an feuchter Stelle stehen wie Huflattich und Wasserampfer, denen
die Wurzeln Überfluss an Nahrung zuschaffen, — sie können auch
grosse, breite Blattflächen entwickeln und durch diese ansehnliche
Mengen Wasser verdunsten, ohne dadurch Schaden zu leiden. Das
Heidekraut muss sich anders einrichten.
B.
Zur Seite unseres Ruheplatzes haben wir blühende Heidekraut-
büsche im Überfluss. Ihre Stengel und Äste sind zwar dünn, aber
holzig und zähe. Rings um die Äste sitzen kleine Zweige mit Blättern.
Wie winzig sind diese! Kaum so lang wie das Weisse am Finger¬
nagel. Ohne Blattstiel klammern sie sich fest und lassen den Blatt-
grund links und rechts noch etwas herabgehen. So bilden sie vier
Reihen und decken sich wie die Ziegel des Daches oder die Schuppen
eines Panzers. In der Mitte ist jedes Blättchen verhältnismässig
dick, und seine Mittelrippe tritt etwas hervor. Schneiden wir es
quer durch, so erinnert es mit der dreieckigen Schnittfläche an die
Nadeln der Kiefer. Zur Kleinheit der Blättchen kommt noch der
Umstand, dass ihre Oberfläche nur wenige Spaltöffnungen trägt, durch
welche der Saft des Krautes verdunstet. So vermag das Pflänzchen
ohne Schaden dem Sonnenbrand des Sommeps zu widerstehen und
behält noch Saft genug übrig, um reizende Blüten zu treiben.
Wir brechen ein blühendes Zweiglein. Können wir einen lieb¬
licheren Schmuck für den Hut eines Heidewanderers finden? Aber