102 A. Erzählende Prosa. V. Geschichtliche Darstellungen. 1. Charakterzüge.
ganzes Volk sind ja jetzt bestraft und vernichtet." So sprach Agamemnon,
und Menelaus gehorchte ihm.
Lange noch dauerte der Brand und das Gemetzel. Die Flammen¬
säule Trojas stieg hoch in den Aether hinauf und verkündete den Unter¬
gang der Stadt den Bewohnern der Inseln und den Schiffen, die hin und
her das Meer besegelten.
V. geschichtliche Darstellungen.
1. Charakterzüge.
72. Solon und Krösus.
Von Karl Ludwig von Roth. Griechische Geschichte. Nürnberg, 1849.
Nachdem Solon seine Gesetze für Athen gegeben, nahm er Urlaub
auf zehn Jahre und fuhr über See nach Aegypten, von da nach der Insel
Eypern und zuletzt auf eine Einladung des Königs Krösus nach Lydien.
Dieses Reich war damals das reichste und blühendste in ganz Asien, und
sein Beherrscher hatte den glänzendsten Hof weit und breit. Als Solon
nach der Lydischen Hauptstadt Sardes und in die Königsburg kam, fand
er deren Vorhöfe, Gänge und Gemächer, durch welche man ihn zum
Könige führte, voll von höheren und niederen Hofbeamten und Dienern und
alle so herrlich gekleidet und von so stolzem Ansehen, daß er bald den
einen, bald den andern derselben für den König ansah. Dennoch zeigte er
keine Verwunderung oder Verlegenheit, als er endlich den Krösus selbst
sah, wie er da saß in lauter Pracht und Herrlichkeit. Dieser gebot nun seinen
Dienern, den Gast in seinen Schatzkammern umherzuführen, damit er da
die aufgehäuften edeln Metalle und Kleinodien mit Muße beschauen könnte.
Nachdem Solon Alles besehen hatte, mußte er wieder zu Krösus
kommen, welcher sagte, er habe von seiner Weisheit und von den weiten
Reisen viel gehört, welche Solon mache, um seine Einsichten zu erweitern,
und nun möchte er ihm sagen, ob er denn irgendwo einen so durchaus
glücklichen Menschen gefunden habe. „Ja," antwortete Solon, „meinen
Landsmann Tellus; sein Leben fiel in eine Zeit, da es unsrer Vaterstadt
gut ging; er hatte wohlgeratheneSöhne, und von allen diesen erlebteer
Enkel, deren keiner starb; ihm selbst mangelte nichts von dem, was man
zum Leben braucht, und sein glückliches Leben beschloß ein schöner Tod, da
er in einer Schlacht zwischen den Unsern und denen von Eleusis durch
seine Tapferkeit die Feinde zum Rückzug zwang und, dabei tödtlich ver¬
wundet, umkam; worauf unsere Stadt ihn auf gemeinsame Kosten da be¬
graben ließ, wo er gefallen war, und sein Andenken aufs höchste ehrte."
Der König hatte gemeint, Solon müßte ihn selbst für den glücklichsten
Menschen erklären, den er auf seinen Reisen gesehen habe. Na-ch dieser
Antwort glaubte er, wenn er nochmals frage, wer nach Tellus der Glück¬
lichste sei, werde Solon ihm doch wenigstens die zweite Stelle einräumen.
Deshalb fragte er, wen Solon nach jenem Manne als den Glücklichsten
befunden habe. Solon antwortete: „Die beiden Brüder zu Argos, Kleobis