Tschudi: Der ©tetnabler. M as ius: Die Vogelwelr.
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Er ist muthig und stark genug, gelegentlich auch auf kleine Kinder zu
schießen und sie wegzutragen.
An den unzugänglichsten Felswänden und lieber im Innern des
Hochgebirges als in den Vorbergen, in Deutschland gern in alten Kiefer¬
wäldern in der Nähe von Flüssen, baut er aus groben Prügeln, Sten¬
geln, Heidekraut und Haaren einen roh gefügten, flachen Horst, den er in
der Niederung zwischen den obersten Eichenästen, im Gebirge in einer
überdachten Felsenspalte anlegt und mit 3 bis 4 weißen, braungespren¬
kelten, sehr großen Eiern besetzt. Den Jungen bringen die Eltern aller¬
lei Wild zu und zerfleischen es in anschaulicher Lehrweise vor ihren Au¬
gen am Rande des Nestes. Sie sollen ihnen sogar junge Reiher auf 3
bis 4 Meilen zutragen. Nicht selten gelingt es dem Jäger, die Nestvögel
auszunehmen, welche sich leicht zähmen lasten, sehr gelehrig sind und mit
Glück zur Jagd abgerichtet werden. In der Gefangenschaft kann der
Steinadler ohne völlige Erschöpfung 4 bis 5 Wochen lang hungem und
soll 30, ja 100 Jahre darin dauern.
Im Berner Oberlande ist das Dorf Eblingen am Brienzer See seiner
Steinadlerjagd wegen berühmt. Etwa eine Stunde oberhalb dieses Dorfes
ist in einer wilden Bergpartie ein merkwürdiger Sammelplatz und Lieblings¬
aufenthalt der Adler. Dort lieben sie einzelne unzugängliche Felszinnen,
von denen aus sie das große Thal der Seen beherrschen. Die Jäger von
Eblingen sind von jeher wegen ihrer Weidmannsfähigkeit der ganzen Ge¬
gend bekannt gewesen; sie verstehen aber auch als echte Jäger ihr Wild zu
festeln und tragen Sorge, daß ihren Vögeln das ganze Jahr der Tisch ge¬
deckt sei. Die Beizstellen sind auf Bäumen und am Boden so gewählt, daß
die Jäger von ihren Wohnungen unten am See aus sie beobachten können.
Mit ihren Fernröhren treten sie dort ans Fenster und überblicken, wenn
sie die Adler erwarten, den Lockplatz. Bemerken sie einen bei der Lockspeise,
so haben sie zwar noch eine Stunde weit durch Büsche und Felsen zu
klettern, aber nur selten entgeht ihnen die Beute; denn wenn diese sich
einmal auf dem Fraße niedergelassen hat, so bleibt sie stundenlang sitzen,
und mit der Sättigung läßt gewöhnlich ihre Vorsicht nach.
Minder gewaltig als die Lämmergeier sind die Steinadler, doch von
stolzerer, würdigerer Haltung, die das Gepräge der Freiheit und Unab¬
hängigkeit trägt. Auch an Sinnenschärfe, Gewandtheit und List möchten
sie wohl höher stehen als die Lämmergeier, die nie wie die Adler zum
Sinnbild eines königlichen Charakters gewählt wurden.
97. Die Vogelwelt.
Von Hermann Mast ns. Naturstudien. Leipzig, 1852.
Unter den mannigfaltigen Geschlechtern der Thierwelt haben die Vögel
von jeher vorzugsweise die Aufmerksamkeit und das Wohlgefallen des Men¬
schen erregt. Der Lerche, dem Storch, der Nachtigall, der Schwalbe erklingen
seit uralten Tagen Chöre von Liedern, und der Volksmund begrüßt sie auf
ihrer luftigen Fahrt mit tausend trauten Wandersprüchen. Ohne die Vögel
würde selbst der Frühling trauern, so wie durch ihre Flucht der Winter
um so unheimlicher und öder wird. Nun sind freilich die Säugethiere
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