Rü ckert: Des fremden Kindes heil. Christ.
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Nun legt dieMutter ihr Kind zu Bett,
Das Vater unser ihm lehren that;
Da schläft es ein mit nachbetendem
Mund,
Die Mutter spricht: „Mein Kind,
schlaf gesund!"
Dann schafft sie dem Bettler einLager
herzu,
Die Leutchen wünschen ihm gute Ruh'
Und, vor der kalten Nacht geborgen,
In der Hütte zu schlafen bis zum
Morgen.
Da ruht der Herr nun gern allein;
Es scheint der Mond ihm hell herein.
Und als derMorgen begunnte zu tagen,
Steht er auf, sich hinwegzutragen,
Dieweil verlöschen der Sterne Keinen,
Und scheidet, sie segnend in seinem
Herzen:
„Bleibt immer arm, ihr guten Leut'!
Den Armen ist Gott nimmer weit;
Stets weich und menschlich fühlt ihr
Gemüth,
Wie selten das Herz auch dem Rei¬
chen glüht,
Und dulden sie Manches auf Erden
gleich,
Den Armen ist das Himmelreich."
187. Des fremden Kindes heiliger Christ.
Von Friedrich Rü ckert. Gedichte. Erlangen, 1839.
7 Es klopft an Thür und Thor
1. Es läuft ein fremdes Kind
Am Abend vor Weihnachten
Durch eine Stadt geschwind,
Die Lichter zu betrachten,
Die angezündet sind.
2. Es steht vor jedem Haus
Und sieht die hellen Räume,
Die drinnen schaun heraus,
Die lampenvollen Bäume;
Weh wird's ihm überaus.
3. Das Kindlein weint und spricht:
„Ein jedes Kind hat heute
Ein Bäumchen und ein Licht
Und hat dran seine Freude,
Nur bloß ich armes nicht.
4. An der Geschwister Hand
Als ich daheim gesessen,
Hat es mir auch gebrannt;
Doch hier bin ich vergessen
In diesem ftemden Land.
5. Läßt mich denn Niemand ein
Und gönnt mir auch ein Fleckchen?
In all den Häuserreih'n
Ist denn für mich kein Eckchen,
Und wär' es noch so klein?
6. Läßt mich denn Niemand ein?
Ich will ja selbst nichts haben;
Ich will ja nur am Schein
Der fremden Weihnachtsgaben
Mich laben ganz allein."
An Fenster und an Laden,
Doch Niemand tritt hervor,
Das Kindlein einzuladen;
Sie haben drin kein Ohr.
8. Ein jeder Vater lenkt
Den Sinn auf seine Kinder;
Die Mutter sie beschenkt,
Denkt sonst nichts mehr noch minder
Ans Kindlein Niemand denkt.
9. „O lieber heil'ger Christ,
Nicht Mutter und nicht Vater
Hab' ich, wenn du's nicht bist.
O sei du mein Berather,
Weil man mich hier vergißt!"
10. Das Kindlein reibt die Hand,
Sie ist von Frost erstarret;
Es kriecht in sein Gewand
Und in dem Gäßlein harret,
'Den Blick hinaus gewandt.
11. Da kommt mit einem Licht
Durchs Gäßlein hergewallet
Im weißen Kleide, schlicht
Ein ander Kind; wie schallet
Es lieblich, da es spricht:
12. „Ich bin der heil'ge Christ,
War auch ein Kind vordeffen,
Wie du ein Kindlein bist;
Ich will dich nicht vergessen,
Wenn Alles dich vergißt.
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