Die Eiche und das Schwein. Der Esel und der Wolf. ZeuS und daS Schaf. 23
19. Die Wohlthaten.
Von Gotthold Ephraim Leffing. Sämmtliche Schriften. Berlin, 1838.
„Hast du wohl einen größeren Wohlthäter unter den Thieren. als
uns?" fragte die Biene den Menschen. — „Ja wohl!" erwiderte dieser
— „Und wen?" — „Das Schaf! Denn feine Wolle ist mir nothwendig,
und dein Honig ist mir nur angenehm. Und willst du noch einen Grund
wissen, warum ich das Schaf für meinen größeren Wohlthäter halte als
dich, Biene? Das Schaf schenket mir seine Wolle ohne die geringste
Schwierigkeit; aber wenn du mir deinen Honig schenkest, muß ich mich
noch immer vor deinem Stachel fürchten."
20. Die Eiche und das Schwein.
Bon Gotthold Ephraim Lessing. Sämmtliche Schriften. Berlin, 1838.
Ein gefräßiges Schwein mästete sich unter einer hohen Eiche mit
der herabgefallenen Frucht. Indem es eine Eichel zerbiß, verschluckte es
bereits eine andere mit dem Auge. „Undankbares Vieh!" rief endlich
der Eichbaum herab. „Du nährst dich von meinen Früchten, ohne einen
einzigen dankbaren Blick auf mich in die Höhe zu richten." Das Schwein
hielt einen Augenblick inne und grunzte zur Antwort: „Meine dankbaren
Blicke sollten nicht ausbleiben, wenn ich nur wüßte, daß du deine Eicheln
meinetwegen hättest fallen lassen."
21. Der Esel und der Wolf.
Von Gotthold Ephraim Lessing. Sämmtliche Schriften. Berlin 1833.
Ein Esel begegnete einem hungrigen Wolfe. „Habe Mitleiden mit
mir!" sagte der zitternde Esel; „ich bin ein armes krankes Thier; sieh
nur, was für einen Dorn ich mir in den Fuß getreten habe." — „Wahr¬
haftig , du dauerst mich," versetzte der Wolf. „Und ich finde mich in
meinem Gewissen verbunden, dich von diesen Schmerzen zu befreien."
Kauin war das Wort gesagt, so ward der Esel zerrissen.
22. Zeus und das Schaf.
Von Gotthold Ephraim Lessing. Sämmtliche Schriften. Berlin, 1838.
Das Schaf mußte von allen Thieren Vieles leiden. Da trat es vor
den Zeus und bat, sein Elend zu mildern. Zeus schien willig und sprach
zu dem Schafe: „Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich habe dich
allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten
abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen und deine
Füße mit Krallen rüsten?" — „O nein," sagte das Schaf; „ich will
nichts mit den reißenden Thieren gemein haben." — „Oder," fuhr Zeus
fort, „soll ich Gift in deinen Speichel legen?" — „Ach!" versetzte das
Schaf, „die giftigen Schlangen werden ja so sehr gehastet." — „Nun was
jou ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirn pflanzen und Stärke
Nacken geben." — „Auch nicht, gütiger Vater, ich könnte leicht so
stößig werden wie der Bock." — „Und gleichwohl," sprach ZeuS, „mußt