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bewacht.“ Da ging er zu dem König und bat um ein Schiff
für sich und seine Brüder und fuhr mit ihnen über das Meer,
bis sie zu dem Felsen hinkamen. Die Königstochter saß da,
aber der Drache lag in ihrem Schoß und schlief. Der Jäger 105
sprach: „Ich darf nicht schießen, ich würde die schöne Jung¬
frau zugleich töten.“ „So will ich mein Heil versuchen,“ sagte
der Dieb, schlich sich heran und stahl sie unter dem Drachen
weg, aber so leis und behend, daß das Untier nichts merkte,
sondern fortschnarchte. 110
9. Sie eilten voll Freude mit ihr aufs Schiff und steuerten
in die offene See; aber der Drache, der bei seinem Erwachen
die Königstochter nicht mehr gefunden hatte, fuhr hinter ihnen her
und schnaubte wütend durch die Luft. Als er gerade über
dem Schiff schwebte und sich herablassen wollte, legte der Jäger 115
seine Büchse an und schoß ihm mitten ins Herz. Das Untier
fiel tot herab, war aber so groß und gewaltig, daß es im Herab¬
fallen das ganze Schiff zertrümmerte. Sie erhaschten glücklich
noch ein paar Bretter und schwammen auf dem weiten Meer
umher. Da war wieder große Not; aber der Schneider, nicht 120
v faul, nahm seine wunderbare Nadel, nähte die Bretter mit ein
paar großen Stichen in der Eile zusammen, setzte sich darauf
und sammelte alle Stücke des Schiffs. Dann nähte er auch
diese so geschickt zusammen, daß in kurzer Zeit das Schiff
wieder segelfertig war und sie glücklich heimfahren konnten. 125
10. Als der König seine Tochter wieder erblickte, war
große Freude. Er sprach zu den vier Brüdern: „Einer von
euch soll sie zur Gfemahlin haben; aber welcher das ist, macht
unter euch aus!“ Da entstand ein heftiger Streit unter ihnen,
denn jeder machte Ansprüche. Der Sterngucker sprach: „Hätt 130
ich nicht die Königstochter gesehen, so wären alle eure Künste
umsonst gewesen; darum ist sie mein.“ Der Dieb sprach:
„Was hätte das Sehen geholfen, wenn ich sie nicht unter dem
Drachen weggeholt hätte? Darum ist sie mein.“ Der Jäger
sprach: „Ihr wärt doch samt der Königstochter von dem Un- 135
tier zerrissen worden, hätte es meine Kugel nicht getroffen;
darum ist sie mein.“ Der Schneider sprach: „Und hätte ich
euch mit meiner Kunst nicht das Schiff wieder zusammenge¬
flickt, ihr wärt alle jämmerlich ertrunken; darum ist sie mein.“