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in dieser traurigen Lage war, daß sie fliegen konnten, und so
flogen sie oft auf die Dächer von Bagdad, um zu sehen, was darin
vorging. 165
3. In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und
Trauer in den Straßen; aber ungefähr am vierten Tag nach ihrer
Verzauberung saßen sie auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie
unten in der Straße einen prächtigen Aufzug; Trommeln und
Pfeifen ertönten, ein Mann in einem goldgestickten Scharlachmantel 170
saß auf einem geschmückten Pferd, umgeben von glänzenden Dienern;
halb Bagdad sprang ihm nach, und alle schrieen: „Heil Mizra,
dem Herrscher von Bagdad!"
4. Da sahen die beiden Störche einander an, und der Kalise
Chasid sprach: „Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert bin. Groß- 175
wesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des mäch¬
tigen Zauberers Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache
schwur. Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf. Komm mit
mir, du treuer Gefährte meines Elends, wir wollen zum Grab des
Propheten wandern, vielleicht daß an heiliger Stätte der Zauber 180
gelöst wird."
5. Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der
Gegend von Medina zu. Mit dem Fliegen wollte es aber nicht
gar gut gehen; denn die beiden Störche hatten noch wenig Übung.
„O Herr," ächzte nach ein paar Stunden der Großwesir, „ich halte 185
es, mit Eurer Erlaubnis, nicht mehr lange aus; Ihr fliegt gar zu
schnell! Auch ist es schon Abend, und wir täten wohl, ein Unter¬
kommen für die Nacht zu suchen."
6. Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er
unten im Tale eine Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewähren 190
schien, so flogen sie dahin. Der Ort, wo sie sich für diese Nacht
niedergelassen hatten, schien ehemals ein Schloß gewesen zu sein.
Schöne Säulen ragten aus den Trümmern hervor, mehrere Ge¬
mächer, die noch ziemlich erhalten waren, zeugten von der ehemaligen
Pracht des Hauses. 196
7. Chasid und sein Begleiter gingen durch die Gänge umher,
um sich ein trockenes Plätzchen zu suchen; plötzlich blieb der Storch
Mansor stehen. „Herr und Gebieter," flüsterte er leise, „wenn es
nur nicht töricht für einen Großwesir, noch mehr aber für einen
Storch wäre, sich vor Gespenstern zu fürchten, mir ist ganz un- 260