R Poesie.
I. Erzählende Gedichte
a) Fabeln und Parabeln.
143. Der junge Baum und der
Wind.
„ Gemach, Herr Wind, gemach! O weh!
Du siehest ja, daß ich allein hier steh' I
An Eichenwäldern mag dein wilder Zorn
sich rächen,
Ich bin ein junger Baum; du wirst mich
noch zerbrechen." —
5 „Ein junger Baum bist du? Gut,
lieber junger Baum,
Um desto mehr kannst du dich schmiegen.
Sieh dort die alten Bäume liegen!
Noch fass' ich dich nur kaum.
10 Nur fein Geduld! Je mehr ich dich
zerzausen werde,
Je fester wurzelst du dich in die Erde."
Joh. Gottl. Willamov. Dialogische Fabeln.
Berlin 1791*. S. 62 f.
143. Turnen.
„Schwing mir die Buben und schwing
mir sie stark!"
Ruft dem Winde der Wald.
„Klagen sie gleich in müdem Gestöhn,
Laß mir nicht ab so bald!
Also nur wurzelt ihr Fuß und mit Mark 5
Füllet sich Arm und Brust
Und sie wachsen zu stolzen Höhn,
Mir eine Herzenslust.
Denn ich hasse die Zwergenart,
So die sumpfige Kluft 10
Eingewindelt vor Wetter bewahrt
Immer in Stubenluft.
Fahl und kahl in des Frühlings Saft
Hat schon ein Lüftchen sie umgerafft."
Abr. Eman. Fröhlich. Fabeln. Aarau 1829*
S. 28.
144. Der Hirsch und der Graben.
Im grünen Bruchland steht, das Haupt gesenkt,
Ein stolzer Hirsch vor einem breiten Graben.
„Verdrießlich," spricht er, „ist's, wenn man so denkt,
Wie schönes Gras da drüben wär' zu haben.
5 Jedoch der Graben! — Wag' ich's oder nicht?
Er ist verzweifelt breit; wenn mein Gesicht
Nicht trügt, so sind's bei zwanzig Fuß und mehr.
Man ist für solchen Sprung doch schon zu schwer.