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zwangen seine Diener ihnen zu gehorchen und verhöhnten den
jungen Telemachos, wenn er einmal ihrem tollen Treiben Ein¬
halt zu thun versuchte. Während sie unten im grossen Saale
zechten und tobten, sass die verlassene Königin oben in ihrem
Gemache am Webstuhl und weinte. Die Freier aber hofften, die
Witwenschaft würde ihr endlich leid werden, und drängten sie
sich bald einen neuen Gemahl auszuerwählen. Um die Zudring¬
lichen loszuwerden, sprach Penelope: „ Lasst mir nur noch so
lange Bedenkzeit, bis ich ein Leichengewand für Laertes,
den greisen Vater meines Odysseus, gewebt habe ! “ Die Freier
gewährten ihre Bitte; aber das Gewand ward nicht fertig, denn
was Penelope am Tage gewoben hatte, das trennte sie bei Nacht
heimlich wieder auf. Das that sie so lange, bis eine untreue
Magd den Freiern das Geheimnis verriet. Da ward die Frech¬
heit der Freier grenzenlos, und Penelope wusste sich ihrer
kaum länger zu erwehren.
61. Odysseus’ Rückkehr.
In der Frühe des Morgens lag am Strande ein Schiff
bereit, welches den Odysseus nach seiner Heimat bringen sollte.
Die Phäaken gaben ihrem lieben Gaste zum Abschied zahl¬
reiche Geschenke; Odysseus dankte allen, besonders dem König
und der Königin, aufs herzlichste und bestieg das Schiff. Von
kräftigen Buderschlägen getrieben glitt das Fahrzeug leicht
über die Meeresfläche dahin. Odysseus aber sank in einen tiefen
Schlummer. Er schlief noch, als das Schiff in einer Bucht der
Insel Ithaka landete. Die Phäaken wollten ihn nicht wecken,
sondern trugen ihn sanft ans Land. Auch die Geschenke legten
sie unter den Ölbaum, wo er im Schlafe lag, und fuhren mit
dem Schiffe davon. Als Odysseus erwachte, wusste er anfangs
nicht, was mit ihm geschehen sei; doch bald erkannte er sein
Heimatland und küsste freudenvoll die heimische Erde. Da trat
die Göttin Athene zu ihm ; sie versprach ihm ihren Beistand
gegen die Freier und verwandelte seine heldenhafte Gestalt in
die eines zerlumpten Bettlers, damit man ihn nicht sogleich er¬
kennen möchte. So schritt Odysseus zuerst den Bergpfad hinan
zur Wohnung seines alten, treuen Dieners, des Schweinehirten
Eumäos. Dieser nahm den Bettler freundlich auf und erzählte