Full text: Für die beiden unteren Klassen der Gymnasien und Realschulen (Teil 1, [Schülerband])

145 
standen, sprach Mari in feierlich: „Kinder, dankt mit uns Gott, der uns in 
dieser Nacht zu glücklichen Menschen gemacht hat. Und von heut an nehmt 
ihr einen Juden in euer tägliches Gebet auf; wenn wir auch seinen Namen 
nicht kennen, die Engel im Himmel haben ihn droben aufgezeichnet!" So 
wurde der Christabend im Bahnwartshäuschen Station 113 gefeiert. 
58. Aus den Zeiten der Fremdherrschaft. 
In einer Amtsstadt im badischen Mittelrheinkreis lebte im Anfang 
dieses Jahrhunderts ein Registrator mit seiner Familie. Es war ein starker, 
großer Mann, von dem man denken konnte, er könne besser den Säbel als 
die Feder führen. Das lange wallende Haar stand ihm gut an, nur wenn 
er heftig wurde, da war es anzuschauen wie die Mähne eines gereizten 
Löwen. Er war aber sonst ein stiller, ernster Mann, dessen Blick, so freund¬ 
lich er sonst war, doch etwas Schwermütiges hatte; man sah es ihm an, 
den Mann drückte etwas, und er durfte doch nicht sagen, was. Wo ihn 
zunächst der Schuh drückte, das konnte man merken, wenn man die Thür 
aufmachte, die aus seiner Amtsstube führte. Da waren seine Frau und 
seine fünf Kinder, wie die Orgelpfeifen aufeinander folgend, der älteste 
ein Knabe von zwölf Jahren. Mit Sorgen mochte er da wohl an die Zu¬ 
kunft denken, denn schon jetzt gab's schmale Bissen; die Besoldung war nur 
klein, und das letzte Halbjahr war gar nichts ausgezahlt worden wegen der 
Kriegszeiten. Es war noch ein Glück für ihn, daß zum Teil sein Einkommen 
in Holz, Frucht und Wein bestand, denn sonst hätte er gar nicht gewußt, 
woher nehmen, um die vielen Mäuler zu stopfen. Aber wie sollte das noch 
werden, wenn der Krieg weiter fortging? Das hatte ihm schon manchmal 
den Kopf warn: gemacht, und es war doch noch nicht das Schlimmste. Denn 
wenn er seine Schreiber entlassen hatte und seinen Schlafrock anzog, da 
war's ihm doch eine Freude, bei dem jungen Volk zu sein. Da spielte er 
mit den Kindern oder nahm den jüngsten auf seinen Schoß, ließ ihn reiten 
und sang dazu deutsche Kriegslieder, daß die Mutter oftmals besorgt herein¬ 
kam und zu ihm sagte: „Pst, Alter, nicht so laut! die Speichellecker könnten's 
hören!" Da wurde er jedesmal ernst, und die milden Augen fingen an zu 
rollen, das lange Haar sträubte sich, und aus der Brust kam ein tiefer 
Seufzer. Ja, da war der Fleck, wo ihn der Schuh drückte. In dem Amts¬ 
städtchen war mehr denn ein Franzosenfreund, zum Teil auch bestochene 
Leute, die am liebsten ganz französisch geworden wären. Sie hatten genaue 
Verzeichnisse über alle ihnen verdächtigen Personen der Umgegend und suchten 
Mendt, deutscher Lesebuch I. 10
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.