Full text: Für die beiden unteren Klassen der Gymnasien und Realschulen (Teil 1, [Schülerband])

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30. Der kluge Richter. 
Daß nicht alles so uneben sei, was im Morgenlande geschieht, das 
haben wir schon einmal gehört. Auch folgende Begebenheit soll sich daselbst 
zugetragen haben. Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, 
welche in ein Tuch eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte 
daher seinen Verlust bekannt und bot, wie man zu thun pflegt, dem ehrlichen 
Finder eine Belohnung und zwar von hundert Thalern an. Da kam bald 
ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld habe ich gefunden. 
Dies wird's wohl sein! So nimm dein Eigentum zurück!" So sprach er 
mit dem heitern Blick eines ehrlichen Mannes und eines guten Gewissens, 
und das war schön. Der andere machte auch ein fröhliches Gesicht, aber 
nur, weil er sein verloren geschätztes Geld wieder hatte. Denn wie es um 
seine Ehrlichkeit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld und 
dachte unterdessen geschwinde nach, wie er den treuen Finder um seine ver¬ 
sprochene Belohnung bringen könnte. „Guter Freund," sprach er hierauf, 
„es waren eigentlich 800 Thaler in dem Tuch eingenäht. Ich finde aber 
nur noch 700 Thaler. Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und 
Eure 100 Thaler Belohnung schon herausgenommen haben. Da habt Ihr 
wohl daran gethan. Ich danke Euch." Das war nicht schön. Aber wir 
sind noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht schlägt 
seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Finder, dem es weniger um die 100 
Thaler, als um seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu thun war, versicherte, 
daß er das Päcklein so gefunden habe, wie er es bringe, und es so bringe, 
wie er's gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide 
bestunden auch hier noch auf ihrer Behauptung, der eine, daß 800 Thaler 
seien eingenäht gewesen, der andere, daß er von dem Gefundenen nichts 
genommen und das Päcklein nicht versehrt habe. Da war guter Rat teuer. 
Aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die schlechte Ge¬ 
sinnung des andern zum voraus zu kennen schien, griff die Sache so an: 
er ließ sich von beiden über das, was sie aussagten, eine feste und feierliche 
Versicherung geben und that hierauf folgenden Ausspruch: „Demnach, und 
wenn der eine von Euch 800 Thaler verloren, der andere aber nur ein 
Päcklein mit 7OO Thalern gefunden hat, so kann auch das Geld des letzteren 
nicht das nämliche sein, auf welches der erstere ein Recht hat. Du, 
ehrlicher Freund, nimmst also das Geld, welches du gesunden hast, wieder 
zurück, und behältst es in guter Verwahrung, bis der kommt, welcher nur 
700 Thaler verloren hat. Und dir da weiß ich keinen Rat, als du geduldest 
dich, bis derjenige sich meldet, der deine 800 Thaler findet." So sprach der 
Richter, und dabei blieb es.
	        
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