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A. Erzählende Prosa. IV. Aus Sage und Geschichte.
Freude, sie sprang von: Lager auf, umarmte die Alte, und Thränen eut>
strömten ihr. Sie stieg darauf vom Söller herab und überschritt die
steinerne Schwelle; Odysseus gegenüber setzte sie sich in des Feuers Schein;
der aber saß an der hohen Säule, den Blick zu Boden gesenkt, und wartete,
ob die untadelige Gattin ihn anreden werde, da sie ihn nun mit Augen
schaute. Doch sie saß lange stumm, und Staunen hatte ihr Herz befangen;
bald meinte sie ihn von Gesicht zu erkennen, bald schien er ihr fremd, da
ihn schlechtes Gewand bedeckte und seine Züge von Athene entstellt waren.
Aber als es Abend geworden war und oer Held sich gebadet und gesalbt
hatte, da goß Athene wieder Anmut über sein Haupt; dunkles Haar um¬
floß in Fülle den Scheitel, die Augen erhielten jugendlichen Glanz, die
Runzeln des Körpers verschwanden, der gekrümmte Rücke:: streckte sick-
gerade in die Höhe: so einem Unsterblichen gleich an Schönheit und
Jugendfrische stieg Odysseus aus der Badewanne. So sah einst der Held
aus, als er von Jthaka nach Troja zog, und auch Penelope erkannte ihn
jetzt; aber noch wollte sie ihn prüfen, ob er es auch wirklich wäre. Darum
sprach sie zu der Amme Eurykleia: „Bereite ihm jetzt das Lager, stelle sein
Bett, das er selbst sich gezimmert, außerhalb des Schlafgeniachs und richte
es wohl zu mit Schaffellen und Decken." Da sprach Odysseus unwillig:
„Das war ein kränkendes Wort, Frau. Das Bett, das ich selbst mir
gezimmert, möchte wohl keiner verrücken. Als wir diesen Palast bauten,
wuchs mitten auf dem Platze ein schattiger Olivenbaum. Diesem schnitt
ich die Krone ab, sein Stamm aber blieb, mit Erz geglättet, mitten im
Gemache stehen, und sein unteres Ende formte ich zu einem Fuße des
Bettes, das ich nun mit vieler Kunst daransügte. Dies war mein Lager,
Penelope, ob es noch steht, weiß ich nicht; wer es aber anders gestellt
hat, der mußte den Olbaum von seiner Wurzel trennen." Als Penelope
diese Worte vernahm, da erbebten ihr die Kniee und das liebe Herz;
weinend flog sie ihm um den Hals, umschlang ihn mit den Armen, küßte
sein Haupt und sprach: „Zürne mir nicht, Odysseus; du warst ja immer
der einsichtigste der Menschen. Mit Jammer haben uns die Götter heim¬
gesucht, die uns nicht gönnten, daß wir vereinigt des Jugendglückes ge¬
nössen und das friedliche Älter erwarteten. Zürne mir nicht und verarg'
cs mir nicht, daß ich beim ersten Anblick dich nicht also begrüßte! Mir
schauderte das Herz im lieben Busen davor, es könnte ein Mensch daher¬
kommen und mich mit Worten täuschen; denn es giebt ja viele, die auf
Trug sinnen."
So sprach sie und erregte ihm noch mehr die süße Wehmut; wie
Schwimmende freudig das Land begrüßen, denen Poseidon das feste Schiff
im Meere zerschellt in Sturm und Wogenschwall, so freudig schaute jene
dem Gatten ins Antlitz, und nimmer wollte sie die weißen Arme von
seinem Nacken lösen.
Am Morgen aber brach Odysseus nach dem Gartenlande auf, wo