Full text: Deutsches Lesebuch für Quinta (Teil 2, [Schülerband])

154 A. Erzählende Prosa. IV. Aus Sage und Geschichte. 
seiner Hütte brachte. Hier erholte er sich und eilte nach Liegnitz. Die 
Frau war entzückt, als sie ihn mit der Springwurzel kommen sah und 
gab ihm eine so große Summe, daß er alle Angst vergaß und fröhlich 
nach Hause eilte. 
Es verging einige Zeit, die Frau schien fast genesen, aber ganz war 
sie noch nicht hergestellt. „Wenn ich noch zum dritten Male die Spring¬ 
wurzel erhalten könnte, dann wäre ich völlig gesund, das fühle ich wohl," 
sprach sie und sandte wieder nach dem Bauer, der zuerst gar nicht kommen 
wollte; aber es war, als triebe ihn ein böser Geist wider seinen Willen. 
„Hier bin ich wieder, gnädige Frau," sagte der Bauer, „was wollt Ihr 
von mir? Doch nicht, daß ich zum dritten Mal die Springwurzel suchen 
soll? Davor bewahre mich Gott! Kaum bin ich das letzte Mal mit dem 
Leben davongekommen. Mich schaudert, wenn ich nur daran denke." Da 
sing die Frau an ihn zu beschwören und versprach ihm ein ganzes, großes 
Bauerngut und große Reichtümer dazu, und sie verblendete den Toll¬ 
kühnen, daß er alle Gefahr vergaß und sich vermaß, die Springwurzel 
noch zum dritten Male zu rauben, und wenn es sein Leben kosten sollte. 
„Bis jetzt," sagte der Bauer, „hat der Geist mir nur gedroht, es soll 
nun das letzte Mal sein. Dann bin ich ein reicher Mann und kann in 
Herrlichkeit und Freude leben." So kam er nach Hause; aber er wagte 
nicht allein zu gehen. „Lieber Sohn," sagte er zu seinem Ältesten, der 
schon erwachsen war, „wir wollen nach der Kapelle auf der Koppe wall¬ 
fahrten, du sollst mich begleiten." So gingen sie nebeneinander; die 
Schluchten wurden immer enger, das Gebirge immer kahler, und als sie 
neben den finstern Seeen, die ewig von starren Felsen beschattet werden, 
hergingen, da ward der Vater gar nachdenklich, und ein inneres Grauen 
durchfuhr ihn, und er blickte so seltsam aus den Augen, daß auch den 
Sohn ein stiller Schauder ergriff. „Was ist dir, Vater?" fragte der 
Sohn; aber der Vater antwortete nicht und blickte stumm vor sich hin. 
So stiegen sie immer höher, und als sie dem Garten nahe waren, da 
sprach der Vater: „Böse Geister haben mich gelockt von früher Kindheit 
an, daß ich immer nur nach Reichtum trachtete, und Gottesfurcht und 
Frömmigkeit blieben mir fremd; daher lebte ich wild und wüst und habe 
euch niemals ein gutes Beispiel gegeben, wie es der Vater seinen Kindern 
schuldig ist. Jetzt ruft mich die Hölle, und ich muß dem Herrn des Ge¬ 
birges die Springwurzel rauben, wofür er mich zerfleischen wird." Da 
heulte der Sohn und sprach: „Vater, laß das sein, kehre mit um, Gott 
wird barmherzig sein!" Aber im Wahne der Verzweiflung hatte der Vater 
den Spaten schon ergriffen und angesetzt. Da erhob sich ein furchtbarer 
Orkan, ein Wolkenbruch stürzte herab, daß alle Bäche zu wilden Strömen 
anwuchsen, ein Wehklagen schien tief aus den Wurzeln des Gartens 
herzzerreißend zu ertönen, alle Elemente bewegten sich wild untereinander, 
gähnende Klüfte öffneten sich, und von oben herab fuhr eine große
	        
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