Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

Becker: Odysseus erzählt den Phäaken seine Abenteuer. 117 
die zwei Opferschafe angebunden, und auch für Mehl und Wein und 
Honig hatte Circe freundlich gesorgt. Wir zogen das Schiff ins Meer, 
richteten den Mast auf und stiegen traurig ein. Ein günstiger Wind, 
den uns die Göttin nachsandte, führte uns in gerader Richtung den 
Enden der Erde und dem Oceanus entgegen. 
Wir kamen an das Gestade des Cimmerierlandes; dort ist das 
äußerste Ende der Erde und des Meeres, welches nicht mehr von 
der Sonne beschienen, sondern ewig von Nebel und Finsternis um¬ 
hüllt wird. Wir zogen unser Schiff an den Strand, nahmen die 
Opfergaben heraus und stiegen zu dem Orte hinab, den uns Circe 
bezeichnet hatte. Wir fanden alles, wie sie gesagt hatte. Nun fing ich 
an, mit meinem Schwerte die Grube zu graben, eine Elle ins Gevierte, 
und darein goß ich genau nach der Vorschrift für die Toten ein Opfer, 
erst von Honig und Milch, dann von lieblichem Weine und zuletzt von 
Wasser, und alles bestreute ich zuletzt mit weißem Mehle; darauf ließ 
ich mir beide Schafe reichen und durchschnitt ihnen mit dem Schwerte 
die Gurgeln, daß ihr schwarzes Blut in die Grube rann. Alsobald 
stiegen aus der Unterwelt die abgeschiedenen Seelen in großen Scharen 
herauf und drängten sich mit grauenvollem Geschrei heran. Ich aber 
wehrte ihnen, im Herzen voll Entsetzens, mit meinem Schwerte 
und befahl den Genossen die abgehäuteten Schafe zu verbrennen. Wäh¬ 
rend das Opfer brannte, flehten wir alle zu den Göttern der Unter¬ 
welt, und ich vergaß nicht die Gelübde für sie und für Tiresias, wo¬ 
fern ich einst nach Hause zurückgekehrt sein würde. 
Ich betrachtete die herbeiziehenden Schatten mit stillem Schauer. 
Geharnischte Männer erblickte ich voll tiefer Wunden, bejahrte Mütter¬ 
chen und blühende Mädchen, kummerbeladene Greise und rüstige Jüng¬ 
linge. Von allen Seiten umdrängten sie die Grube, und ich hatte viel 
Mühe, mit meinem Schwerte sie abzuhalten von dem Blute. Sie schie¬ 
nen alle gar keine Sprache zu haben bis auf den einzigen Tiresias, 
der mich, da er sein geistiges Leben bewahrt hatte, sofort erkannte und 
anredete. Er befahl mir das Schwert wegzuhalten und ihn trinken zu 
lassen; denn erst mit dem Genusse des Blutes kehrt das Leben und 
das Bewußtsein in den Schalten der Toten zurück. Nachdem er ge¬ 
trunken hatte, lehnte er sich auf seinen goldenen Stab und begann fol¬ 
gende Weissagung: Edler Odysseus, du wünschest dir eine glückliche 
Heimfahrt, aber ein Himmlischer wird sie dir sehr erschweren. Weißt 
du nicht, wie tief du den Poseidon beleidigt hast dadurch, daß du sei¬ 
nem teuern Sohne das Auge geblendet? Dennoch aber kann dir noch 
alles, wiewohl mit Mühe, gelingen, wofern du nur auf der Insel Thri- 
nacia die Stiere des Helios unangetastet lässest. Aber tötest du einen 
derselben, dann ist Rettung kaum weiter zu hoffen. Und ob du auch 
dein Vaterland noch wieder sähest, so würde es doch nur spät geschehen. 
Erst nach unendlicher Trübsal wirst du, verlassen von all deinen Ge¬ 
fährten und unbekannt wie ein Bettler auf fremden Schiffen heimkehren, 
und auch zu Hause wirst du nur bitteres Elend finden. Andere werden 
von deiner Habe prassen, um deine Gattin werben und deinem Sohne
	        
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