V. Geschichte.
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richtung gegen die unsere einzutauschen. Denn jener fehlt die eine Kleinig—
eit: sie hat für die Freiheit und Selbständigkeit der Bürger keinen Raum.
Wir wollen lieber einige Dinge weniger vollkommen machen, aber wir
ollen sie selbst nach unseren Wünschen machen. Wir wollen das nicht
loß aus Bequemlichkeit oder Eigenwillen, sondern wir wollen es zum
besten unserer Bildung. Wir fühlen, daß die wichtigsten Seiten unseres
Geistes und Herzens nicht entwickelt werden, wenn wir der gemeinnützigen
Tätigkeit für die Landesinteressen fremd bleiben, wenn wir ohne eigene
Arbeit die öffentliche Wohlfahrt nur von, dem Herrn Minister zugeschnitten
ekommen, wenn wir bei irgend einem Übelstande nichts anderes zu lun
wissen, als die hohe Regierung um Abhilfe zu bitten oder über sie zu
brummen. Genau betrachtet, besteht die Freiheit in Frankreich darin, daß
seder Bürger seine Stimme abgibt bei der Wahl der Äbgeordneten.
diese einmal gewählt, so wird durch Gesetze und Minister unbedingt über
as ganze Dasein aller Bürger verfügt. Erst nach dem Kriege hat
einen ersten Versuch in der entgegengesetzten Richtung gemacht, indem man
in den einzelnen Bezirken gewählte Generalräte mit weiteren Verwaltungs—
in eingesetzt hat. Es zeigte sich aber sogleich, wie ungewohnt der—
sleichen Einrichtungen dem Volke waren; viele Generalräte, anstatt sich der
helevenalnng anzunehmen, begannen sogleich, hohe Politik zu treiben,
und wurden dadurch nur eine neue Quelle der Zwietracht in dem arg
renn Lande.
Da sich nun aber der Drang zur Freiheit aus keinem menschlichen Herzen
läßt und also, wenn ihm die gesetzlichen Mittel versagt sind, zu
ewalttätigen greift, so ist in Frankreich bei unzähligen Menschen die Vor—
stellung herrschend geworden, daß die rechte Freiheit in der fortdauernde
Befugnis zur Revolution bestehe. Auf die Revolution von 1789 ist später
die von 1830, auf diese die von 1848 gefolgt; die dort erwachsene Republik
st durch den revolutionären Staatsstreich Rapoleons und dessen en
durch die Revolution des 4. September 1870 zugrunde gegangen. Nun
nicht weniger als sechs große Parteien um den Machtbesitz in der
ukunft; die monarchisch Gesinnten teilen sich in Bonapartisten, hitimisten
Orleanisten; die Gegner zerfallen in könservative, radikale und soziale
emokraten. Die ruhigen Bürger jammern, daß niemand an Frankreich,
eder nur an seine Partei denke. Handel und Wandel stocken, die Begriffe
rwirren, die Leidenschaften erhißen sich; die Zukunft erscheint völlie
hwankend, unsicher und unheilvolnnn
Das einzige, worüber dort alle einig sind, ist die Forderung der Gleich—
eit aller. Keiner soll etwas vor den anderen voraus haben, jeder das—
elbe Recht wie der andere besitzen. Es klingt recht schön, und unter Um—
tänden können sich daraus auch gute Folgen entwickeln, ein wirksames Selbst—
sefühl, eine tüchtige Ehrenhaftigkeit der Menschen. Aber auch hier liegt eine
Noße. Gefahr. Wer die Gleichheit im vollen Maße begehrt, der fordert,
einer über den anderen hervorrage, daß jeder ebenso reich, ebenso stark, ebenso
Tomus chat, Deutsches Lesebuch für Lehrerbildungsanstalten. UI. Teil. Prosa.
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