88
Prosa. A. Darstellungen, Abhandlungen, Betrachtungen.
Glaube derart mußte große Wirkung hervorbringen; er war die Seele
ihrer Lieder; auch haben ihn Taten bewährt. Wo sind die Normänner
nicht hingekommen in den mittleren Zeiten? wo haben sie nicht gestreift,
geschlagen und überwunden?
Rauher Heldenmut war die Seele dieser Gesänge, obgleich auch
andere Stücke zeigen, wie zart sie vom weiblichen Geschlechte gedacht und,
wie schon Tacitus von den Deutschen rühmt, das Göttliche in ihnen ver—
ehret. Ihr Land, Klima, der Bau ihres Körpers und am meisten ihr
Beruf und die Seele, die ihnen ihr Führer Odin eingehaucht hatte, machte
sie den Rosen des Gesanges unempfindlich; als sie diefe in den Südländern
genießen lernten, war die Stärke ihrer Brust dahin, sie entschlummerten in
Armidas Armen. — Indessen zeigt der Charakter einiger großer Männer
dieser Völker, die wir näher kennen, daß sie nicht so barbarisch gewesen,
als sie ihre Feinde ausgaben und ausgeben mußten. Ihr Eroberungs- und
Verwüstungsgeist war eine traurige Folge von vielerlei zum Teil edlen,
zum Teil zu entschuldigenden Gründen, ob sie gleich freilich Ideal
der Sittlichkeit damit nicht werden, auch nicht werden wollen.
Briten, Iren, Gallier, Schotten hatten Dichter, Religions-
Mut- und Tugendsänger, wie alle alten Nationen; nur scheint es nicht,
daß die Gesänge dieser so hart und wild als die der Normänner gewesen. Sei
Ossian ganz alt oder nur aus alten Gesängen zusammengesetzt und ge—
schaffen, welche weichere Seele ist in ihm! Ein Zauber der Einsamkeit
und Liebe, des Mutes und der Schonung! Sturm und Mondlicht, Mitter—
nacht und die Stimme der Väter wechseln mit Tränen und mit den zartesten
Tönen der Harfe. Für uns haben diese Lieder noch so viel Macht; auf
ihrer Stelle, zu ihrer Zeit, in ihrer Sprache, welche Wirkung müssen
sie gehabt haben! O, hätten wir noch die Gesänge der Barden! Hätte
unter unseren Vätern ein Ossian gelebet! — Bei allen Nationen, die wir
Wilde nennen, und die oft gesitteter als wir sind, sind Gesänge derart ihr
ganzer Schatz des Lebens: Lehre und Geschichte, Gesetz und Sitten, Ent—
zückung, Freude und Trost, die Stunden ihtes Himmels hier auf Erden
sind in ihnen. Solange es Barden gab, war der Nationalgeist dieser
Völker unbezwinglich, ihre Sitten und Gebräuche unauslöschbar.
Daher war auch das Schicksal der meisten, daß sie untergingen, als
sich mit Ort und Zeit die Sitten des Volkes, ihre Religion und
Denkart änderten. Wie die Barbaren die Mythologie, Kunst und Dicht—
kunst der Römer zerstörten, so ging auch die ihrige einem großen Teil nach
zugrunde, weil ihre alten Sitten, Meinungen und Sagen gar zu kräftig
in ihren Gesängen lebten. Was wir haben, ist nur dem Schiffbruche
entronnen und hat sich an Küsten, in den Winkeln der Erde, wo noch jetzt
zum Teil mit diesen Gesängen die Sitten der Väter herrschen, gerettet. Sie
kamen in die Mittagssonne, und was sollten nun die kleinen Lampen weiter?
Wie es indessen Vorsehung war, daß diese Völker so lange in dem Zu—
stande, den wir Wildheit nennen, wie unter einem wohltuenden Nebel