Full text: Prosa für das Seminar (Teil 2, [Schülerband])

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Prosa. A. Darstellungen, Abhandlungen, Betrachtungen. 
Glaube derart mußte große Wirkung hervorbringen; er war die Seele 
ihrer Lieder; auch haben ihn Taten bewährt. Wo sind die Normänner 
nicht hingekommen in den mittleren Zeiten? wo haben sie nicht gestreift, 
geschlagen und überwunden? 
Rauher Heldenmut war die Seele dieser Gesänge, obgleich auch 
andere Stücke zeigen, wie zart sie vom weiblichen Geschlechte gedacht und, 
wie schon Tacitus von den Deutschen rühmt, das Göttliche in ihnen ver— 
ehret. Ihr Land, Klima, der Bau ihres Körpers und am meisten ihr 
Beruf und die Seele, die ihnen ihr Führer Odin eingehaucht hatte, machte 
sie den Rosen des Gesanges unempfindlich; als sie diefe in den Südländern 
genießen lernten, war die Stärke ihrer Brust dahin, sie entschlummerten in 
Armidas Armen. — Indessen zeigt der Charakter einiger großer Männer 
dieser Völker, die wir näher kennen, daß sie nicht so barbarisch gewesen, 
als sie ihre Feinde ausgaben und ausgeben mußten. Ihr Eroberungs- und 
Verwüstungsgeist war eine traurige Folge von vielerlei zum Teil edlen, 
zum Teil zu entschuldigenden Gründen, ob sie gleich freilich Ideal 
der Sittlichkeit damit nicht werden, auch nicht werden wollen. 
Briten, Iren, Gallier, Schotten hatten Dichter, Religions- 
Mut- und Tugendsänger, wie alle alten Nationen; nur scheint es nicht, 
daß die Gesänge dieser so hart und wild als die der Normänner gewesen. Sei 
Ossian ganz alt oder nur aus alten Gesängen zusammengesetzt und ge— 
schaffen, welche weichere Seele ist in ihm! Ein Zauber der Einsamkeit 
und Liebe, des Mutes und der Schonung! Sturm und Mondlicht, Mitter— 
nacht und die Stimme der Väter wechseln mit Tränen und mit den zartesten 
Tönen der Harfe. Für uns haben diese Lieder noch so viel Macht; auf 
ihrer Stelle, zu ihrer Zeit, in ihrer Sprache, welche Wirkung müssen 
sie gehabt haben! O, hätten wir noch die Gesänge der Barden! Hätte 
unter unseren Vätern ein Ossian gelebet! — Bei allen Nationen, die wir 
Wilde nennen, und die oft gesitteter als wir sind, sind Gesänge derart ihr 
ganzer Schatz des Lebens: Lehre und Geschichte, Gesetz und Sitten, Ent— 
zückung, Freude und Trost, die Stunden ihtes Himmels hier auf Erden 
sind in ihnen. Solange es Barden gab, war der Nationalgeist dieser 
Völker unbezwinglich, ihre Sitten und Gebräuche unauslöschbar. 
Daher war auch das Schicksal der meisten, daß sie untergingen, als 
sich mit Ort und Zeit die Sitten des Volkes, ihre Religion und 
Denkart änderten. Wie die Barbaren die Mythologie, Kunst und Dicht— 
kunst der Römer zerstörten, so ging auch die ihrige einem großen Teil nach 
zugrunde, weil ihre alten Sitten, Meinungen und Sagen gar zu kräftig 
in ihren Gesängen lebten. Was wir haben, ist nur dem Schiffbruche 
entronnen und hat sich an Küsten, in den Winkeln der Erde, wo noch jetzt 
zum Teil mit diesen Gesängen die Sitten der Väter herrschen, gerettet. Sie 
kamen in die Mittagssonne, und was sollten nun die kleinen Lampen weiter? 
Wie es indessen Vorsehung war, daß diese Völker so lange in dem Zu— 
stande, den wir Wildheit nennen, wie unter einem wohltuenden Nebel
	        
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