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Poesie des Nordens
3. Poesie des Nordens.
Die Sonne Homers hat auch über die Eisberge des Nordens ihren
Glanz und über die bereiften Täler ihre Edelsteine ausgestreut. Zwischen
einem wildkriegerischen, tatenreichen Leben, das in den frühen Zeiten
meist in Seeräubereien zum Erwerb des Unterhaltes oder in Heerfahrten
bestand, welche die Nachbarn zur Tributpflichtigkeit unterwarfen, und
zwischen einer mäßigen Ruhe und Untätigkeit war das Dasein der Nord¬
länder geteilt. Ein rauhes Klima verweigerte dann die Lust eines üppigen
leichten Lebens, und die Zeit nicht wie Südliche nach Sommern und
Tagen, sondern nach wintern und Nächten zählend, waren sie einer
stillen Betrachtung, dem Nachdenken über die Taten der Vorzeit und
Gegenwart hingegeben.
So scheint es aber auch, als ob sie alle geistige Lust und Kraft
der Poesie zugewandt, und während es an jenen fast nur musikalischen
und mit Farben spielenden Liedern südlicher Völker fehlt, so erscheint
ein Reichtum an epischen Dichtungen, welcher bei dem verhältnismäßig
kleinen Volke verwunderungswürdig ist: Dichtungen, die zu den tief¬
sinnigsten und gewaltigsten gehören, welche je durch die Seele eines
Menschen gegangen.
Sie haben alle etwas Uranfängliches, Rohes; die Form ist oft ganz
vernachlässigt, hart und streng (denn sie pflegt erst später an schon
Überliefertem zugefügt oder ausgebildet zu werden); dagegen aber haben
sie noch alle die Kraft und die Gewalt eines jugendlichen, unbeschränkten
und unbezähmten Lebens, das alles Äußerliche verschmäht.
Aus dem Mutterlande her bewahrten die Skandinavier die Geheim¬
nisse göttlicher Offenbarungen über die Natur der Dinge; ihre ersten
Melden waren schon Götter geworden, dort in Asien noch wohnend, und
traten auch wieder in den Fabeln einer schön ausgebildeten Mythologie
in den Kreis der Menschen. Gleicherweise wurden ihnen später Melden
zugesellt, die sich von ihnen herleiteten und in dem Bewußtsein gött¬
licher Abkunft lebten, wie das edle Geschlecht der wälsungen, in deren
Augen noch ein himmlisches Feuer brannte, das Mörder, selbst die wilden
Tiere erschreckte.
So besaß der Norden alles, was der Poesie Bedeutung und ein¬
greifendes Leben gibt und wodurch sie ebensowohl auf den eigenen
Boden festgestellt als an die Sterne angeknüpft wurde.
Wilhelm Grimm.