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Wer ist der Dichter des Nibelungenliedes?
tihtet manige3 sit hat
vil diche in tuschär zungen
daz die alten mit den jungen
erchennent wol daz märe
von ir fröuden noch von ir swäre
ich iu nu niht mere hie sage
dizze liet haizet diu klage.
der seitdem manch's gedichtet Hat
in guter deutscher Zungen,
daß die Alten mit den Zungen
erkennen möchten diese Märe
j in ihrer Freud' und ihrer Schwere.
ZchbinzuEnd' und nur noch sage:
Dies Lied hat man genannt die
Klage.
11.
Bei dem gänzlichen Mangel aller bestimmten geschichtlichen Nach¬
richten über den Dichter des Nibelungenliedes war man genötigt nach
einem anderen Anhaltspunkte der Forschung zu suchen und hat einen
solchen in der poetischen Form gefunden.
Obgleich die Strophe, welche im Nibelungenliede zur Verwendung
kommt, die bedeutendste Einwirkung auf die gesamte spätere Dichtung
der Deutschen ausgeübt hat, so ist sie doch unverändert sonst nirgends
mehr angewendet als in dem sehr verstümmelt uns überlieferten Ge¬
dichte von Alpharts Tod und in einigen kleineren lyrischen Ge¬
dichten, welche in auffallender weise auch im sprachlichen Ausdruck mit
dem Nibelungenliede übereinstimmen. Sie geben kleine lyrisch-epische
Bilder, die sich ganz wie das Nibelungenlied durch tiefe natürliche Emp-
findung sowie durch volksmäßige Einfachheit und Anspruchslosigkeit aus¬
zeichnen. Zn einem dieser Liedchen wird dasselbe Bild von dem Falken
gebraucht, das in Rriemhildens Traum*) erscheint; eine Frau singt:
Ich zöch mir einen valken mere dänne ein jär.
dö ich in gezamete, als ich in wolte hän,
und ich im sin gevidere mit golde wol bewant,
er huop sich üf vil höhe und flouc in anderiu lant.
Sit sach ich den valken schöne vliegen:
er fuorte an sinem fuoze sidine riemen
und was im sin gevidere al röt guldin.
got sende sie zesamene die geliebe wellen gerne sin!
Als Verfasser dieser kleinen lyrischen Gedichte wird Kürenberger
angegeben und ausdrücklich wird die Strophenform in einem der Liedchen
„Kürenbergs wise" genannt, Kürenberger folglich als der Erfinder
der Nibelungen st rophe bezeichnet. Da es aber in der mittel¬
hochdeutschen Dichtung als Gesetz galt, daß kein Dichter die Strophen¬
*) Siehe Seite H7, Strophe i3!