Full text: Deutsche Dichtung des 18. Jahrhunderts (Band 2, [Schülerband])

Goethe als Dramatiker 
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Drei Werke aber aus dieser Reihe heben sich über die andern hervor 
und wachsen in den Bereich der echten, großen Kunst empor: die „Ge— 
schwister“, „Proserpina“ und vor allen „Iphigenie“. 
Vor Goethes Zeit und in seiner Jugend waren die antiken Sagen— 
helden der beliebteste Gegenstand der Dramatiker gewesen. Aber es 
ging von ihnen keine Wärme aus; sie wandelten in der französischen 
Tragödie und bei den deutschen Nachahmern wie seelenlose Schatten 
über die Bühne oder wurden (z. B. bei Wieland) zu kleinen, modernen 
Menschen. Goethe war es gegeben, ihnen nichts von ihrer Größe zu 
nehmen und sie doch unserm Herzen so nahe zu bringen, daß wir mit 
ihnen empfinden, daß sie als Bürger zweier Welten, der fernen Ver— 
gangenheit und der Gegenwart, von neuem auflebten. Er verband so 
das, was die Sturm-⸗ und Drangperiode errungen hatte, das freie Walten 
der Leidenschaften, das Recht auf die Darstellung der Innenvorgänge 
um ihrer selbst willen, die tiefere und feinere Charakteristik mit der 
Tradition, die von der Kunst schöne Natur, die edle Einfalt und stille 
Größe der Alten forderte. 
„Iphigenie auf Tauris“ ist das Ergebnis dieser Verschmelzung zweier 
scheinbar unendlich weit getrennten Kunstwelten. Gleich einer Wunder— 
blüte von sanfter, inniger Farbe und mildestem Duft ging sie auf, als 
der Dichter sich zur Ruhe und Klarheit durchgerungen hatte, als auf 
die stürmische Jugend die Zeit der Reife, der ernsten, pflichtbewußten 
Sammlung gefolgt war. Die heißen Triebe sind nicht erkaltet, aber 
sie gehorchen nun dem zielbewußten Willen des großen Künstlers, der 
sie gebunden hält und ihre Säfte hinaufleitet zur edel entfalteten Krone. 
Alles ist in der „Jphigenie“ Maß und Gesetz und Schönheit. Nur 
so weit dürfen die Leidenschaften walten, wie sie sich diesen strengen 
und doch sanften Linien fügen. 
Unser deutsches Publikum ist gewöhnt, von der Bühne herab stärkere 
Impulse zu empfangen, und der Hörer bedarf einer feingestimmten Seele, 
einer durchaus empfänglichen Stimmung, um von diesen zarten, edeln 
Tönen erregt und gerührt zu werden. Ebenso reichen die üblichen Mittel 
der Darstellung hier nicht aus. Weder die auf dem Kothurn daher— 
schreitende Heroine, noch die jugendliche Sentimentale vermag mit dem 
Können ihres Faches die Umrisse der Gestalt Iphigeniens auszufüllen. 
Die vornehmste Bildung des Geistes und der Seele, klassische Ruhe und 
Schönheit der Bewegung und innigste Wärme des Tones, die reifste 
Kunst und die naive Ursprünglichkeit des Gefühls müssen vereinigt sein, 
um eine Künstlerin zur Verkörperung dieser Gestalt zu befähigen, und
	        
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