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Goethe als Dramatiker
dasselbe gilt von den übrigen vier Rollen und von dem gesamten Stil
des weihevollen Schauspiels.
Wo ist die Bühne, das Publikum, die diesen Ansprüchen stand hielten?
Daher erklärt es sich, daß die „Iphigenie“ niemals von den Brettern
herab ihre volle Wirkung ausübt und daß der stille Leser mit Hilfe der
Phantasie weit eher sich ihre edle Menschlichkeit vor Augen zu zaubern
vermag.
Dieselben Gründe hindern in noch höherem Maße eine gerechte
Würdigung des „Torquato Tasso“, der zweiten großen Dichtung, die
gleich der „IJphigenie“ in Weimar empfangen und auf dem klassischen
Boden Italiens gereift ist. Seine Vollendung zog sich noch lange nach
der Rückkehr des Dichters ins deutsche Cand fort; die unermüdliche Sorg⸗
falt des Meisters ruhte nicht, bis das Bild, im edelsten Marmor der
schönheitatmenden Sprache geformt, wie aus Götterhand entsprungen
vor ihm stand.
„Torquato Tasso“ ist das vollkommenste dramatische Kunstwerk, das
Goethe geschaffen hat. Die Hoheit des Stils, die einfache und doch
stetig fortschreitende Handlung, die Lebensfülle der Charakteristik, die
tiefe leidenschaftliche Bewegung stempeln ihn dazu. Aber noch unmög—
licher als bei der „Iphigenie“ erscheint es, für ihn Zuschauer und Schau—
spieler, die ihm gewachsen wären, zu finden. Jede Aufführung bestätigt
von neuem die Behauptung Paul Heyses, daß eine vollkommene Dar—
stellung des „Tasso“ zu den unerfüllbaren Wünschen gehört und daß
das Publikum ihm gegenüber ratlos ist. Forscht man nach den Ursachen
dieser Erscheinung, so erkennt man sie in der Zartheit des Gedanken—
und Empfindungskreises, der hier umschrieben ist, in der Ruhe, die
über dem Ganzen ausgebreitet liegt und die bei einem antiken Stoffe
wie der „Iphigenie“, den meisten noch weniger fremdartig erscheint
als bei einem Gegenstand aus neuerer Zeit, und in dem Mangel an
äußerer Handlung. Darin berührt sich der „Tasso“ mit seinen Antipoden,
den Dramen der Modernsten, auch darin, daß hier wie dort Seelen—
zustände an sich vorgeführt werden. Aber während die Dichter von heute
uns die Muskeln und Nerven ihrer Gestalten wie an Leichen der Ana—
tomie bloßlegen, schafft Goethe im „Tasso“ fünf lebende Menschen, in
denen unter blühenden, ideal schönen Formen sich das reichste Innen—
leben entfaltet, und läßt es uns durch die Hülle hindurch ahnend erblicken.
Das dem Zuschauer zu vermitteln und es sich durch schauspielerische
Kunst vermitteln zu lassen, ist freilich schwer, um so schwerer, da die
Sitte des Hofes von Ferrara auch den Sturm der Leidenschaften im
Innersten zu verschließen gebietet und jede explosive Äußerung ihrer