Full text: Deutsche Dichtung des 18. Jahrhunderts (Band 2, [Schülerband])

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Goethe als Dramatiker 
dasselbe gilt von den übrigen vier Rollen und von dem gesamten Stil 
des weihevollen Schauspiels. 
Wo ist die Bühne, das Publikum, die diesen Ansprüchen stand hielten? 
Daher erklärt es sich, daß die „Iphigenie“ niemals von den Brettern 
herab ihre volle Wirkung ausübt und daß der stille Leser mit Hilfe der 
Phantasie weit eher sich ihre edle Menschlichkeit vor Augen zu zaubern 
vermag. 
Dieselben Gründe hindern in noch höherem Maße eine gerechte 
Würdigung des „Torquato Tasso“, der zweiten großen Dichtung, die 
gleich der „IJphigenie“ in Weimar empfangen und auf dem klassischen 
Boden Italiens gereift ist. Seine Vollendung zog sich noch lange nach 
der Rückkehr des Dichters ins deutsche Cand fort; die unermüdliche Sorg⸗ 
falt des Meisters ruhte nicht, bis das Bild, im edelsten Marmor der 
schönheitatmenden Sprache geformt, wie aus Götterhand entsprungen 
vor ihm stand. 
„Torquato Tasso“ ist das vollkommenste dramatische Kunstwerk, das 
Goethe geschaffen hat. Die Hoheit des Stils, die einfache und doch 
stetig fortschreitende Handlung, die Lebensfülle der Charakteristik, die 
tiefe leidenschaftliche Bewegung stempeln ihn dazu. Aber noch unmög— 
licher als bei der „Iphigenie“ erscheint es, für ihn Zuschauer und Schau— 
spieler, die ihm gewachsen wären, zu finden. Jede Aufführung bestätigt 
von neuem die Behauptung Paul Heyses, daß eine vollkommene Dar— 
stellung des „Tasso“ zu den unerfüllbaren Wünschen gehört und daß 
das Publikum ihm gegenüber ratlos ist. Forscht man nach den Ursachen 
dieser Erscheinung, so erkennt man sie in der Zartheit des Gedanken— 
und Empfindungskreises, der hier umschrieben ist, in der Ruhe, die 
über dem Ganzen ausgebreitet liegt und die bei einem antiken Stoffe 
wie der „Iphigenie“, den meisten noch weniger fremdartig erscheint 
als bei einem Gegenstand aus neuerer Zeit, und in dem Mangel an 
äußerer Handlung. Darin berührt sich der „Tasso“ mit seinen Antipoden, 
den Dramen der Modernsten, auch darin, daß hier wie dort Seelen— 
zustände an sich vorgeführt werden. Aber während die Dichter von heute 
uns die Muskeln und Nerven ihrer Gestalten wie an Leichen der Ana— 
tomie bloßlegen, schafft Goethe im „Tasso“ fünf lebende Menschen, in 
denen unter blühenden, ideal schönen Formen sich das reichste Innen— 
leben entfaltet, und läßt es uns durch die Hülle hindurch ahnend erblicken. 
Das dem Zuschauer zu vermitteln und es sich durch schauspielerische 
Kunst vermitteln zu lassen, ist freilich schwer, um so schwerer, da die 
Sitte des Hofes von Ferrara auch den Sturm der Leidenschaften im 
Innersten zu verschließen gebietet und jede explosive Äußerung ihrer
	        
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