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Erster Teil. Die Zeitalter der deutschen Dichtung.
3. Dort bei der grünen Linde,
Die just im Blühen stand,
Dort drückt' ich meinem Kinde
Zum letztenmal die Hand;
Da flössen Tränen nieder —
Es schwenken schon die Glieder —
Du siehst mich nimmer wieder;
Ich sterb' im fremden Land.
4. Herr Gott, o tu doch beugen
Zur Milde ihren Hohn!
Herr Gott, tu mir's bezeugen,
Ich bin ja kein Spion!
Ach Gott, ich kann's nicht fassen,
Verloren und verlassen
So schmählich zu verblassen!
Ich klag's vor Gottes Thron.
123. Gustav Freykag,
1816—1895, geb. zu Kreuzburg in Oberschlesien, Sohn eines Arztes und Bürgermeisters,
studierte in Breslau germanische Philologie und beschäftigte sich daneben mit der drama-
tischen Dichtung. („Die Technik des Dramas.") 1847—1870 war er in Leipzig Redak¬
teur der „Grenzboten", 1854 wurde er Hofrat. Für die großen Kriege 1866 und 1870/1871
zeigte er begeisterte Teilnahme, machte sogar den Französischen Krieg im Hauptquartier
Kronprinzen mit. Hier empfing er auch die Anregung zu seinen „Ahnen". Er ließ ßw
nach dem Kriege in Wiesbaden nieder, wo er auch gestorben ist. — Er ist zwar auch als
dramatischer Dichter tätig gewesen („Die Fabier", „Die Journalisten"), aber seine Haupt-
bedcutung hat er als Romanschriftsteller („Die Ahnen", „Soll und Haben", „Die verlorene
Handschrift".) — „Bilder aus der deutschen Vergangenheit." — S. S. 86, 193 und 233
des I. Teiles, S. 78 des II. Teiles.
124. Theodor Storni,
1817—1888, geb. zu Husum, studierte die Rechte und wurde Amtsgerichtsrat. — Er ist so¬
wohl als Lyriker wie als Erzähler bedeutend. Seine Werke zeichnen sich durch Feinheit
der Empfindung und gemütvolle Zartheit, doch auch durch kräftige Frische der Schilderung
aus. („Jmmensee", „Geschichten aus der Tonne", „Schimmelreiler"). — S. S-117, 404,
424, 599 des h. und S. 472 des III. Teiles.
„Gedichte." Berlin 1898.
chlrtoverkied.
1. Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenkt' ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
2. Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!
3. Und wimmert auch einmal das
Herz,
Stoß' an, und laß es klingen!
Wir lvissen's doch, ein rechtes Herz '
Ist gar nicht umzubringen.
4. Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk' ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
5. Wohl ist es Herbst; doch warte
nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.
6. Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!
Weihnachtsabend.
1. Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus',
Weihnachten war's; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.