Full text: Deutsche Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts (Band 3, [Schülerband])

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Märchen 
8. Mit Degen und mit Speere 
waren sie stets bereit, 
Den Frauen gaben sie Ehre, 
Und sangen widerstreit. 
Sie sangen von Gottesminne, 
von kühner Melden Mut, 
von lindem Liebessinne, 
von süßer Maienblut. 
9. von alter Städte Mauern 
Der Widerhall erklang, 
Die Bürger und die Bauern 
Erhuben frischen Sang. 
Der Senne Hai gesungen, 
Der über Wolken wacht; 
Ein Lied ist aufgeklungen 
Tief aus des Bergmanns Schacht. 
fO. In einer Mainacht blinkten 
Die Sterne wunderschön; 
Der Fürstin war, als winkten 
Sie ihr zu Turmes Höhn. 
Sie stieg hinauf zum Dache, 
Die zarte, ganz allein: 
Da fiel aus einem Gemache 
Ein trüber Lampenschein. 
sh Lin weiblein, grau von Haaren, 
Dort an dem Nocken spann, 
Sie hatte wohl nichts erfahren 
vom strengen Spindelbann. 
Die Fürstin, die noch nimmer 
Gesehen solche Runst, 
Sie trat in Weibleins Zimmer: 
„wer bist du, mit vergunst?" 
\2. „Man nennt mich, schönes Lieb¬ 
chen, 
Die Stubenpoesie; 
Denn aus dem trüben Stübchen 
verirrt' ich mich noch nie. 
Ich sitz' am lieben Platze 
Beim Nocken, wandellos; 
Meine alte, blinde Ratze, 
Die spinnt auf meinem Schoß. 
s3. Lange lange Lehrgedichte, 
Die spinn' ich recht mit Fleiß; 
Flächsene Heldengedichte, 
Die haspl' ich schnellerweis. 
Mein Rater maut Tragödie, 
Mein Nad hat lyrischen Schwung, 
Meine Spindel spielt Romödie 
Mit Tanzbelustigung." 
Die Fürstin tät erbleichen, 
Als man von Spindeln sprach; 
Sie wollte flugs entweichen, 
Die Spindel sprang ihr nach; 
Und an der morschen Schwelle, 
Da fiel das Fräulein jach, 
Die Spindel auf der Stelle 
Sie in die Ferse stach. 
s5. was war das für ein Schrecken, 
Als man sie morgens traf! 
Sie war nicht mehr zu wecken, 
Sie schlief den Zauberschlaf. 
Ein Lager ward bereitet 
Im hohen Rittersaal, 
Goldstoffe drauf gebreitet 
Und Rosen ohne Zahl. 
s6. So schlief sie in der Halle, 
Die Fürstin, reich geschmückt. 
Bald hatte die andern alle 
Der gleiche Schlaf berückt. 
Die Sänger, schon in Träumen, 
Rührten die Saiten bang, 
Bis in des Sckstosses Räumen 
Der letzte Laut verklang. 
f7. Die Alte spann noch immer 
Im stillen Rämmerlein, 
Ls woben in jedem Zimmer 
Die Spinnen groß und klein. 
Die Decken und Ranken woben 
Sich um den Fürstenbau, 
Und um den Himmel oben, 
Da spann sich Nebelgrau. — 
f8. Wohl nach vierhundert Jahren, 
Da ritt des Rönigs Sohn 
Mit seinen Iägerscharen 
Ins waldgebirg davon: 
„was ragen doch da innen, 
Gb all dem hohen Wald 
Für graue Türm' und Zinnen 
von seltsamer Gestalt?"
	        
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