Das deutsche Kinderlieb
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windbewegten Bäumen eine süß einschläfernde Gewalt. So heißt es
auch in dem zartesten der Schlummerlieder:
„Dort hoch auf dem Berge, Sie wiegt es mit ihrer schneeweißen Hand
Da wehet der Wind; Und braucht dazu kein lViegenband.
Da sitzt Frau Maria Schlaf ein, schlaf ein,
Und wieget ihr Kind. Lieb Kindelein!"
Den Nachklang der Wiegenlieder im Kerzen des Dichters und damit
ihren poetischen vollklang hat Nückert bezeugt:
„Ich war ein böses Kind und schlief nie ungesungen;
Doch schlief ich ein geschwind, sobald ein Lied erklungen,
Das meine Mutter sang gelind.
Und also bin ich noch: ein Schlaflied muß mir klingen;
Nur dieses lernt ich doch: es selber mir zu singen,
Seit ich der Mutter wuchs zu hoch.
Und was mir tief und hoch nun mancherlei entklungen.
Ist nur ein Nachhall doch von dem, was sie gesungen;
Die Mutter singt in Schlaf mich noch."
Neben den zarten Rinderliedern treffen wir nun auch recht derbe,
manche weniger von poetischem, aber dafür von pädagogischem werte,
bald die Verstimmung des Rindes wegscherzend, bald unwillkommene
Pflichten erleichternd, bald Schmerzenstränen in Lächeln wandelnd.
Ist das Rind „grantig", wie man in Österreich sagt, d. i. übelgelaunt,
so ist das Sprüchlein an der Stelle:
„Der Müller will mahlen,
Das Rädchen geht um,
Mder das andere:
„Mein Kindelein klein,
Das bild't sich viel ein.
Mein Kinder! ist grantig,
weiß selbst nit warum."
Jetzt mag es mich nimmer,
's muß aber nit sein."
Line im Mittelalter beliebte Dichtungsform, die priamel, hat uns
ein anderes Liedchen aufbehalten:
„Vögel, die nicht singen, Pistolen, die nicht krachen,
Glocken, die nicht klingen, Kinder, die nicht lachen,
Pferde, die nicht springen, was find das für Sachen!"
Die schweizerische Mutter sagt schmeichelnd:
„Mareili, was denkscht, 'aß d' es Näsli so streckscht,
'aß d' es Lhöpfli so senkscht, Kes wörtli meh redscht?"
Die niedersächsische Mutter stellt das verstimmte Rind vor die Wahl:
„Bist du bös, Bist du got,
Gah mank de Göös; Kümm up min Schot!"