Deutsche Märchen
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II. Ich erzähle Märchen.
. . . Die Biesentochter steigt von ihren Bergen
Und schüttet Pflug und Bauer in den Schoß.
Schneewittchen lebt zufrieden bei den Zwergen
Und plaudert mit der Hexe ahnungslos,
s Sirenen locken mit verliebter Stimme,
Die sieben Schwaben führen ihren Spieß
Und Bitter Blaubart würgt in wildem Grimme
Die zehnte Frau im dunklen Burgverließ.
Der kleine Hans fällt in den schwarzen Graben,
10 Das kam, er guckte immer in die Luft.
Hoch oben kreischt der Schrei der sieben Baben
Und Däumling fährt die Brüder aus der Kluft . . .
wie lautlos hockt dein Knabe mir zu Füßen!
Die Augen glänzen ihm vor Kindesglück.
15 Das Märchenland mit seinen wundersüßen,
Geheimen Schauern grünt vor seinem Blick.
Noch manches Märchen wüßt' ich dir zu sagen,
Doch schweig' ich still, im Innersten bewegt,
wir hören nur die Wanduhr langsam schlagen,
20 Und nur den wind, der um die Ecke fegt.
Es ist so still: ein Engel schwebt durchs Zimmer
Und selbst das kleine Plappermäulchen schweigt.
Am Fenster, überströmt von Abendschimmer,
Ganz tief im Sessel ist dein Haupt geneigt.
25 Längst will die Dämmrung ihre Schleier ziehen,
Die Sonne weicht vor ihrer Übermacht.
Du siehst noch hell das Abendrot erglühen,
Ich aber sitze schon in dunkler Nacht . . .
. . . Das Bäumchen prangt in dunkelgrünem Laube
so Und wünscht sich, daß es goldne Blätter hätt'.
Botkäppchen guckt Großmutters weiße Haube
Und ahnt nicht, daß der grimme Wolf im Bett.
Jung Siegfried will ein Schwert vom König haben
Und reißt die Bäume aus vor Übermut.
35 Lin blondes Nixlein zieht den Fischerknaben
Mit weißen Armen in die blaue Flut.
wenn dann die Nebel aus den wiesen steigen,
Dann ist die ganze Llfenschar erwacht;
Ini Mondschein führt die Königin den Neigen
io Und lockt den wand'rer in die Todesnacht . . .
Ludwig Iakobowski.
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