Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

91. Der Specht und die Taube. 
Aug. Gottl. Meißner. 
Ein Specht und eine Taube hatten einen Pfau besucht. „Wie 
gefiel dir unser Wirt?" fragte der Specht auf dem Heimwege; „ist 
er nicht ein widerwärtiges Geschöpf? Sein Stolz, feine unförm¬ 
lichen Füße, feine häßliche Stimme, find sie nicht unerträglich?" 
„Auf dieses alles," sagte die gute Taube, „hatte ich keine Zeit zu 
sehen; deun ich hatte genug an der Schönheit feines Kopfes, an den 
herrlichen Farben feiner Federn und an feinem majestätischen 
Schweife zu bewundern." 
So sieht der Gute an dein Nächsten nur das Gute, der Böse 
aber nur dessen Fehler. 
92. Der Esel in der Löwenhaut. 
Nach Äsop. 
Ein Esel fand ein Löwenfell, schlüpfte hinein und bedeckte da¬ 
mit feine Glieder, so gut er dies vermochte. Darnach wollte er 
furchtbar erscheinen und zerstampfte den Schafen und Lämmern 
die Weide, daß diese eilig entflohen. Auch die furchtsamen Tiere 
des Waldes erschreckte er. Der Bauer aber, der feinen Esel ver¬ 
mißte, fand ihn in der tapferen Haut, ergriff ihn bei den Ohren, 
die schlecht versteckt waren, zog ihm den falschen Rock aus und schlug 
ihn hart, indem er sprach: „Die dich nicht kennen, magst du leicht 
in Schrecken setzen; wer dich aber kennt, fürchtet dich nicht. Darum 
trage deines Vaters grauen Rock und bleibe, was du bisher warst 
•—ein Esel." 
93. Der alte Löwe. 
Nach Äsop. 
Ein alter Löwe, der von jeher sehr grausam gewesen war, lag 
kraftlos vor feiner Höhle und erwartete den Tod. Die Tiere, welche 
sonst bei feinem Anblicke in Schrecken gerieten, freuten sich darüber, 
daß sie nun bald seiner los fein würden. Einige, denen er früher 
unrecht getan, wollten nun ihren Haß an ihm auslasten. Der arg¬ 
listige Fuchs kränkte ihn mit beißenden Reden, der Wolf sagte ihm 
die ärgsten Schimpfworte, der Ochs stieß ihn mit feinen Hörnern, 
das wilde Schwein verwundete ihn mit feinen Hauern und selbst 
). Lang, Lesebuch f. Mittelschulen. 6
	        
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