Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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er bei dem König Minos eine Freistätte, erwarb sich dessen Zu¬ 
neigung und genoß als berühmter Künstler hohes Ansehen. Zur 
selben Zeit hauste auf der Insel Kreta der Minotaurus, ein Unge¬ 
heuer mit menschenähnlichem Körper, auf dem ein Stierkopf saß. 
Seine Speise bestand in Jünglingen und Jungfrauen, welche in¬ 
folge alter Zinsbarkeit von Athen geliefert werden mußten. König 
Minos wollte das Ungetüm den Augen der Menschen gänzlich 
entziehen und gab Dädalus den Auftrag ein hiezu passendes Ge¬ 
bäude herzustellen. Dieser schuf ein riesiges Bauwerk mit un¬ 
zähligen sich ineinander verschlingenden Gängen, die jeden Ein¬ 
tretenden so verwirrten, daß er den Ausgang nicht mehr fand: 
das Labyrinth. 
Nach dessen Fertigstellung empfand Dädalus den Aufent¬ 
halt auf der Insel gleich einer Gefangenschaft. Der Gedanke sein 
ganzes Leben auf einem vom Meer umschlossenen Eiland in der 
Nähe eines tyrannischen Königs verbringen zu sollen quälte ihn 
sehr. Eifriges Nachdenken ließ ihn bald ein Rettungsmittel ent¬ 
decken. „Mag mich," sprach er, „Minos immerhin von Land und 
Wasser aussperren, die Luft bleibt mir doch offen.“ Er sammelte 
große Mengen von Vogelfedern, ordnete sie nach der Größe und 
verknüpfte die stärkeren mit Fäden, die kleineren mit Wachs. 
Eine Krümmung gab dem Ganzen das Aussehen eines Vogel¬ 
flügels. Ikarus, der kleine Sohn des Dädalus, schaute dem Trei¬ 
ben seines Vaters neugierig zu, spielte fröhlich mit dem weichen 
Flaum und knetete fleißig das gelbe Wachs für den Vater. Eines 
Tages paßte sich Dädalus die fertigen Flügel an den Leib und 
konnte damit wie ein Vogel sich in die Luft erheben. Nun lehrte 
er auch seinen Sohn, für den er ein kleines Flügelpaar angefertigt 
hatte, die Kunst des Fliegens. 
Bevor beide die Insel verließen, sprach Dädalus zu Ikarus: 
„Bleibe ja stets in der rechten Höhe! Wenn du dich zu sehr 
senkst, könnte das Meerwasser die Fittiche streifen und sie be¬ 
schweren, daß du in die Tiefe stürzest; wenn du zu hoch steigst, 
könnte dein Gefieder der Sonne zu nahe kommen und Feuer fan¬ 
gen. Flieg zwischen Wasser und Sonne dahin, immer nur meinem 
Pfade folgend!" Beim Anlegen der Flügel überfiel Bangigkeit 
des Vaters Herz; seine Hände zitterten und aus seinen Augen 
tropften Tränen. Er umarmte und küßte den Knaben — es sollte 
das letztenmal sein. Dädalus erhob sich zuerst; sorgenvoll wie ein 
Vogel, der seine zarte Brut aus dem Neste leitet, flog er voraus. 
Ikarus folgte in kurzer Entfernung. Bald waren beide an Samos, 
Delos und Paros vorübergeschwebt und sahen noch manche Küste 
schwinden. Der glückliche Flug verleitete nun Ikarus den väter¬ 
lichen Führer zu verlassen und übermütig höher zu steuern. 
Schnell folgte dem Ungehorsam die Strafe. Von der Kraft der
	        
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