— 108 —
Erzähle, lieber Leser, immerhin meine Leidensgeschichte deinen Freunden wieder.
Ich lache jeht selbst über meine Ungeschicklichkeit. Aber meine Geschichte kann
manchem unserer jungen Herren, zum Beispiel zwar nicht, doch zur Warnung
und Lehre dienen.
94. Das Vogelnestchen.
Christoph v. Schmid.
Der Geheime Rat von Treuhold besaß ein schönes Landgut in einer sehr
angenehmen Gegend. Von Zeit zu Zeit kam er aus der Residenz dahin, um
auf einige Tage der Landluft zu genießen und sich von seinen Geschäften zu er—
holen. Als es wieder Frühling ward, nahm er seine zwei kleinen Söhne, zwei
liebliche, blühende Knaben, das erste Mal mit dahin. Beiden gefiel es auf dem
Lande ganz unvergleichlich. Der große Garten am Hause, die grünenden Saat⸗
felder und die blumigen Wiesen entzückten sie. Über alles aber ging ihnen das
nahe Wäldchen voll Eichen, Birken, Erlen und blühender Gebüsche, durch das
mehrere, reinlich mit Kies bestreute Wege führten. Die beiden Knaben lebten
wie neu auf.
Eines Tages ging der Vater mit ihnen in das Wäldchen und zeigte ihnen
ein Vogelnestchen. Das nette Nestchen und die fünf zarten jungen Vögelchen,
denen die alten, die gar nicht scheu waren, Futter zutrugen, machten den Knaben
unbeschreibliche Freude.
Der Vater setzte sich hierauf mit den zwei Knaben auf die steinerne Bank
unter einer alten Eiche am Ende des Wäldchens, wo man eine sehr schöne Aus⸗
sicht in das kleine, freundliche Thal hatte. „Ich will euch einmal von einem
Voͤgelnestchen erzählen,“ sprach er, „und ich denke, ihr werdet diese Erzählung
sehr merkwürdig finden. Die Geschichte hat sich hier in dieser Gegend zugetragen.“
Beide Knaben waren sehr begierig, die Geschichte zu hören, und der Vater
erzählte:
„An einem schönen Frühlingsmorgen, vor etwa vierzig Jahren, saß unter
eben dieser Eiche ein armer Knaäbe und hütete die Schafe. Er las dabei in
einem kleinen Büchlein und war so vertieft in das Lesen, daß er fast nicht auf⸗—
blickte. Von Zeit zu Zeit warf er jedoch einen schnellen Blick auf seine Schafe,
die auf dem beblümten Rasen, hier zwischen dem Wäldchen und dem Forellenbach
dort, weideten.
Als er wieder aufblickte, stand ein überaus schöner junger Herr, der wie
Milch und Blut aussah, in einem grünen, goldgestickten Kleide vor ihm. Es war
der Erbprinz, der damals noch nicht zehn Jahre alt war. Der Hirtenknabe
kannte ihn aber nicht; er meinte, der freundliche junge Herr gehöre dem Forst⸗
meister, der manchmal in Geschäften auf das benachbarte fürstliche Jagdschloß kam.
„Guten Morgen, junger Herr Forstmeister,“ sagte der Hirtenknabe und zog
seinen Surohhnt ab, setzte ihn aber sogleich wieder auf. „Kann ich Ihm womit
dienen?
„Sag mir einmal,“ sprach der Prinz, „giebt es in diesem Wäldchen wohl
auch Vogelnester?“
„Das ist eine seltsame Frage für einen jungen Forstmann,“ sagte der
Knabe. „Hört Er denn nicht die Vöglein singen? Freilich giebt es Nester genug
Jedes Voͤglein hat sein Nestlein.“
„Nun so wirst du wohl auch ein Vogelnestlein wissen?“ sprach der Prinz
freundlich.
„O ein wunderschönes Nestlein!“ sagte der Knabe freudig. „Das schönste,
das ich in meinem Leben gesehen habe. Es ist so nett aus gelblichen Halmen