Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare

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Erzähle, lieber Leser, immerhin meine Leidensgeschichte deinen Freunden wieder. 
Ich lache jeht selbst über meine Ungeschicklichkeit. Aber meine Geschichte kann 
manchem unserer jungen Herren, zum Beispiel zwar nicht, doch zur Warnung 
und Lehre dienen. 
94. Das Vogelnestchen. 
Christoph v. Schmid. 
Der Geheime Rat von Treuhold besaß ein schönes Landgut in einer sehr 
angenehmen Gegend. Von Zeit zu Zeit kam er aus der Residenz dahin, um 
auf einige Tage der Landluft zu genießen und sich von seinen Geschäften zu er— 
holen. Als es wieder Frühling ward, nahm er seine zwei kleinen Söhne, zwei 
liebliche, blühende Knaben, das erste Mal mit dahin. Beiden gefiel es auf dem 
Lande ganz unvergleichlich. Der große Garten am Hause, die grünenden Saat⸗ 
felder und die blumigen Wiesen entzückten sie. Über alles aber ging ihnen das 
nahe Wäldchen voll Eichen, Birken, Erlen und blühender Gebüsche, durch das 
mehrere, reinlich mit Kies bestreute Wege führten. Die beiden Knaben lebten 
wie neu auf. 
Eines Tages ging der Vater mit ihnen in das Wäldchen und zeigte ihnen 
ein Vogelnestchen. Das nette Nestchen und die fünf zarten jungen Vögelchen, 
denen die alten, die gar nicht scheu waren, Futter zutrugen, machten den Knaben 
unbeschreibliche Freude. 
Der Vater setzte sich hierauf mit den zwei Knaben auf die steinerne Bank 
unter einer alten Eiche am Ende des Wäldchens, wo man eine sehr schöne Aus⸗ 
sicht in das kleine, freundliche Thal hatte. „Ich will euch einmal von einem 
Voͤgelnestchen erzählen,“ sprach er, „und ich denke, ihr werdet diese Erzählung 
sehr merkwürdig finden. Die Geschichte hat sich hier in dieser Gegend zugetragen.“ 
Beide Knaben waren sehr begierig, die Geschichte zu hören, und der Vater 
erzählte: 
„An einem schönen Frühlingsmorgen, vor etwa vierzig Jahren, saß unter 
eben dieser Eiche ein armer Knaäbe und hütete die Schafe. Er las dabei in 
einem kleinen Büchlein und war so vertieft in das Lesen, daß er fast nicht auf⸗— 
blickte. Von Zeit zu Zeit warf er jedoch einen schnellen Blick auf seine Schafe, 
die auf dem beblümten Rasen, hier zwischen dem Wäldchen und dem Forellenbach 
dort, weideten. 
Als er wieder aufblickte, stand ein überaus schöner junger Herr, der wie 
Milch und Blut aussah, in einem grünen, goldgestickten Kleide vor ihm. Es war 
der Erbprinz, der damals noch nicht zehn Jahre alt war. Der Hirtenknabe 
kannte ihn aber nicht; er meinte, der freundliche junge Herr gehöre dem Forst⸗ 
meister, der manchmal in Geschäften auf das benachbarte fürstliche Jagdschloß kam. 
„Guten Morgen, junger Herr Forstmeister,“ sagte der Hirtenknabe und zog 
seinen Surohhnt ab, setzte ihn aber sogleich wieder auf. „Kann ich Ihm womit 
dienen? 
„Sag mir einmal,“ sprach der Prinz, „giebt es in diesem Wäldchen wohl 
auch Vogelnester?“ 
„Das ist eine seltsame Frage für einen jungen Forstmann,“ sagte der 
Knabe. „Hört Er denn nicht die Vöglein singen? Freilich giebt es Nester genug 
Jedes Voͤglein hat sein Nestlein.“ 
„Nun so wirst du wohl auch ein Vogelnestlein wissen?“ sprach der Prinz 
freundlich. 
„O ein wunderschönes Nestlein!“ sagte der Knabe freudig. „Das schönste, 
das ich in meinem Leben gesehen habe. Es ist so nett aus gelblichen Halmen
	        
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