Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für katholische Präparandenanstalten

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an Essen und Trinken und an besonderem Gebäck und daneben der Besuch der 
heiligen Kirche und die Freude am Gesang der Christlieder, die in Ludwig 
Richters Bild: „Deutsche Weihnacht" trefflichen Ausdruck gefunden hat: alles 
das sind Züge, die in der Seele des germanischen Volkes gewachsen und zu 
5 einem harmonischen Ganzen vereint sind. Wir wissen heutzutage, daß unsere 
Weihnachtsfeier in der jetzigen Form durchaus nicht alt ist. Im Mittelalter 
hat man von ihr nichts gewußt, und unser Lichterbaum, der heute gewisser¬ 
maßen den Mittelpunkt des Festes bildet, hat sich erst in diesem Jahrhundert 
über fast alle Länder verbreitet, wo Deutsche wohnen; in den früheren Jahr- 
10 Hunderten findet er sich nur vereinzelt, und vor dem siebzehnten ist er über¬ 
haupt nicht nachweisbar. Und ebenso steht es mit dem Verteilen der Gaben 
unter dem Christbaume. Noch Sebastian Franck in seiner Weltchronik kennt 
diesen Brauch am Weihnachtstage nicht; er erzählt nur, daß es zu seiner Zeit 
gang und gäbe sei, am Neujahrstage Geschenke zu machen, eine Sitte, die wir 
15 ja auch bei anderen Völkern antreffen. Im Mittelalter und in den folgenden 
Jahrhunderten stand beim eigentlichen Christfest die kirchliche Feier im Vorder¬ 
gründe, aber daneben finden wir in der ganzen Weihnachtszeit eine Menge 
Sitten und Gebräuche, die sich auch heute noch erhalten haben, und die zum 
Teil sicher bis in die heidnische Zeit unserer Vorfahren zurückreichen. 
20 Diese Sitten und Gebräuche, die wir in der Weihnachtszeit bei allen ger¬ 
manischen Völkern beobachten können, sind verschiedenen Ursprunges; die einen 
stammen, wie bemerkt, aus der heidnischen Zeit der Germanen, andere hat die 
Einführung des Christentums mit sich gebracht, noch andere sind erst in spät¬ 
geschichtlicher Zeit entstanden oder in Anlehnung an andere Festgebräuche ge- 
25 schaffen worden. Schon unseren heidnischen Vorfahren waren die Wochen, da 
die Natur abgestorben war und sich zu neuem Leben vorbereitete, eine heilige 
Zeit. Das waren die Tage, wo die Geister, die Seelen der Abgeschiedenen, 
ihr Wesen mehr als sonst trieben. Im Freien, vor allem in den Wäldern, 
heulten die Stürme; diese mögen die erste Veranlassung zum Glauben an den 
30 Spuk der Geister gegeben haben. Bald fuhren diese allein, bald vom Wind- 
und Totengotte oder von dessen Frau geführt, durch die Lüste. Bis auf den 
heutigen Tag haben sich jene alten Sagen vom wütenden oder vom Wodans¬ 
heere oder vom wilden Jäger erhalten, denen sich die von der Frau Holle oder 
Berchta zur Seite stellen. Zu Ehren dieser fahrenden Geister und ihres Führers 
35 oder ihrer Führerin fanden Opfer und Opferschmäuse statt. Für diese war die 
Zeit besonders geeignet; das Vieh sowohl wie die Äcker lagen in Ruhe, und 
demnach hatte auch der Mensch wenig Arbeit. Der Mangel an Futter und 
der Haushalt hatten dann weiter gefordert, daß ein Teil der Haustiere ein¬ 
geschlachtet worden war, und so waren Mittel für die Feier des Festes ge- 
40 nügend vorhanden. An diesen Opferschmäusen nahmen die Geister selbst teil; 
an gewissen Orten, besonders an Kreuzwegen, tafelte man ihnen auf; ihr Führer 
erhielt auf der für ihn bestimmten Opferstätte seinen Anteil. War jemand 
während des verflossenen Jahres in der Familie gestorben, so wurde ihm an
	        
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