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„Friede sei mit Dir!" grüßte. Und sehen Sie, Freund Heynes und
seine Frau folgen ihr. O mein Lieber, ich möchte Sie tausendmal
dafür umarmen, daß Sie Sich in der gelehrten Welt Göttingens
lieber zu einer guten Mutter setzten, ihre Linder sahen, Llopstocks
Oden gelesen und — so glücklich unter zwei Freunden waren. Schönes,
menschliches Herz!-Die Frage nach der Freundin Ihres Herzens
und ihre Antwort darauf ist mir durch die Seele gegangen. Warum
haben Sie der edlen Frau nicht die Wahrheit gesagt, die ihr ganzes
Herz mit Ihnen teilte? Ach, lassen Sie mir doch meine alte Llage
von Unwürdigkeit und daß ich Ihr schönes edles Herz nimmer, nim¬
mermehr, und wenn ich auch das beste Mädchen auf der Welt wäre,
verdiene.
Ist es nicht artig, wir wechseln unsre Erzählung von gefundenen
Freunden immer gegen einander aus. Ich habe vor einigen Tagen
Ihren Freund Goethe und Herrn Schlosser?), von dem ich Ihnen schon
geschrieben, kennen gelernt. Sie haben Merck besucht auf etliche Tage,
und wir waren zwei Nachmittage und auch beim Mittagessen bei¬
sammen. Goethe ist so ein gutherziger, muntrer Mensch, ohne gelehrte
Zierat, und hat sich mit Mercks Lindern so viel zu schaffen gemacht,
und eine gewisse Ähnlichkeit im Ton oder Sprache oder irgend was
mit Ihnen, daß ich ihm überall nachgegangen. Der erste Nachmittag
wurde uns verdorben durch ein Trisettspiep) und zwei Leute aus der
Stadt. Nur einen Augenblick saßen Goethe, meine Schwester und ich
der Abendsonne, die sehr schön war, gegenüber und sprachen von
Ihnen. Er hat sechs Monat in Straßburg mit Ihnen gelebt und
spricht recht mit Begeisterung von Ihnen. Ich habe ihn von diesem
Augenblicke an recht lieb gewonnen. Den zweiten Nachmittag haben
wir auf einem hübschen Spaziergang und in unserm Hause bei einer
Schale Punsch zugebracht. Wir waren nicht empfindsam, aber sehr
munter, und Goethe und ich tanzten nach dem Llavier Menuetten;
und darauf sagte er uns eine vortreffliche Ballade von Ihnen her, die
ich noch nie gehört:
*) Christian Gottlob Heyne (1729—1812), Altertumsforscher;
seit 1763 in Göttingen, wo er Professor der Beredsamkeit und Direktor
der Universitätsbibliothek war.
2) Johann Georg Schlosser, Goethes Jugendfreund (1739
bis 1799). Er wurde Goethes Schwager durch seine Vermählung mit
dessen Schwester Cornelia (1. Nov. 1773).
3) Trisett (frz. tr&sept), ein Kartenspiel, bei dem man gewinnt,
wenn man drei Sieben in der Hand hat.
Girardet-PulS-Reling, Lesebuch III. 34
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