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Goethes Zeitgenossen.
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76. Sehnsucht.
i- Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrannte.
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
-.Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürben in Waldesnacht.
--Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernde Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sdmmernacht.
77. Zwielicht.
Gedruckt 1815.
Ton: Schumann op. 39 Nr. 10.
Dämmrung will die Flügel spreiten,
schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume —
Was will dieses Graun bedeuten?
--Hast ein Reh du lieb vor andern,
laß es nicht alleine grasen,
Jägerziebn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wieder wandern.
»-.Hast du einen Freund hienieden,
trau ihm nicht zu dieser Stunde,
freundlich wohl mit Aug' und Munde
sinnt er Krieg im tück'schen Frieden.
4- Was heut müde gehet unter,
hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren —
hüte dich, bleib wach und munter!
78. Die Zeit geht schnell.
i-Lieb' Vöglein, vor Blüten
sieht man dich kaum
im dämmernd beglühten
flüsternden Baum;
wann in Morgenfunken
sprühn Täler und Quell,
singst du freudetrunken —
aber die Zeit geht schnell.
-. Wie balde muß lassen
seine Blätter der Wald,
die Blumen erblassen,
die Gegend wird alt,
erstarrt ist im Eise
der muntere Quell —
rüst' die Flügel zur Reise;
denn die Zeit geht schnell!
79. Loreley.
Gedruckt 1815.
Ton: Schumann op. 39 Nr. 3.
Ahnung und Gegenwart.
. . . Die zwei Jäger hatten sich um einen Tisch
gelagert, der auf dem grünen Platze zwischen
den Häusern und dem Rheine ausgeschlagen
war, und schäkerten mit den Mädchen, denen
sie gar wohl zu gefallen schienen. Die Mädchen
verfertigten schnell einen frischen, übervollen
Kranz von hellroten Rosen, den sie dem einen,
welcher der Lustigste schien, aus die Stirne
drückten. Leontin begann folgendes Lied über
ein am Rheine bekanntes Märchen:
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
was reitst du einsam durch den Wald?
Der Wald ist lang, du bist allein,
du schöne Braut! ich führ' dich heim!
Da antwortete der Bekränzte drüben vom
anderen Tische mit der folgenden Strophe des
Liedes:
Groß ist der Männer Trug und List,
vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,
wohl irrt das Waldhorn her und hin,
o flieh! du weißt nicht, wer ich bin.
Leontin stutzte und sang weiter:
So reich geschmückt ist Roß und Weib,
so wunderschön der junge Leib,
jetzt kenn' ich dich — Gott steh' mir bei!
Du bist die Here Lorelei.