Full text: Sang und Spruch der Deutschen (Band 3)

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Goethes Zeitgenossen. 
[36] 
76. Sehnsucht. 
i- Es schienen so golden die Sterne, 
Am Fenster ich einsam stand 
Und hörte aus weiter Ferne 
Ein Posthorn im stillen Land. 
Das Herz mir im Leib entbrannte. 
Da hab' ich mir heimlich gedacht: 
Ach, wer da mitreisen könnte 
In der prächtigen Sommernacht! 
-.Zwei junge Gesellen gingen 
Vorüber am Bergeshang, 
Ich hörte im Wandern sie singen 
Die stille Gegend entlang: 
Von schwindelnden Felsenschlüften, 
Wo die Wälder rauschen so sacht, 
Von Quellen, die von den Klüften 
Sich stürben in Waldesnacht. 
--Sie sangen von Marmorbildern, 
Von Gärten, die überm Gestein 
In dämmernde Lauben verwildern, 
Palästen im Mondenschein, 
Wo die Mädchen am Fenster lauschen 
Wann der Lauten Klang erwacht, 
Und die Brunnen verschlafen rauschen 
In der prächtigen Sdmmernacht. 
77. Zwielicht. 
Gedruckt 1815. 
Ton: Schumann op. 39 Nr. 10. 
Dämmrung will die Flügel spreiten, 
schaurig rühren sich die Bäume, 
Wolken ziehn wie schwere Träume — 
Was will dieses Graun bedeuten? 
--Hast ein Reh du lieb vor andern, 
laß es nicht alleine grasen, 
Jägerziebn im Wald und blasen, 
Stimmen hin und wieder wandern. 
»-.Hast du einen Freund hienieden, 
trau ihm nicht zu dieser Stunde, 
freundlich wohl mit Aug' und Munde 
sinnt er Krieg im tück'schen Frieden. 
4- Was heut müde gehet unter, 
hebt sich morgen neugeboren. 
Manches bleibt in Nacht verloren — 
hüte dich, bleib wach und munter! 
78. Die Zeit geht schnell. 
i-Lieb' Vöglein, vor Blüten 
sieht man dich kaum 
im dämmernd beglühten 
flüsternden Baum; 
wann in Morgenfunken 
sprühn Täler und Quell, 
singst du freudetrunken — 
aber die Zeit geht schnell. 
-. Wie balde muß lassen 
seine Blätter der Wald, 
die Blumen erblassen, 
die Gegend wird alt, 
erstarrt ist im Eise 
der muntere Quell — 
rüst' die Flügel zur Reise; 
denn die Zeit geht schnell! 
79. Loreley. 
Gedruckt 1815. 
Ton: Schumann op. 39 Nr. 3. 
Ahnung und Gegenwart. 
. . . Die zwei Jäger hatten sich um einen Tisch 
gelagert, der auf dem grünen Platze zwischen 
den Häusern und dem Rheine ausgeschlagen 
war, und schäkerten mit den Mädchen, denen 
sie gar wohl zu gefallen schienen. Die Mädchen 
verfertigten schnell einen frischen, übervollen 
Kranz von hellroten Rosen, den sie dem einen, 
welcher der Lustigste schien, aus die Stirne 
drückten. Leontin begann folgendes Lied über 
ein am Rheine bekanntes Märchen: 
Es ist schon spät, es wird schon kalt, 
was reitst du einsam durch den Wald? 
Der Wald ist lang, du bist allein, 
du schöne Braut! ich führ' dich heim! 
Da antwortete der Bekränzte drüben vom 
anderen Tische mit der folgenden Strophe des 
Liedes: 
Groß ist der Männer Trug und List, 
vor Schmerz mein Herz gebrochen ist, 
wohl irrt das Waldhorn her und hin, 
o flieh! du weißt nicht, wer ich bin. 
Leontin stutzte und sang weiter: 
So reich geschmückt ist Roß und Weib, 
so wunderschön der junge Leib, 
jetzt kenn' ich dich — Gott steh' mir bei! 
Du bist die Here Lorelei.
	        
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