Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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zwei Gegenbilder aufeinander blickten und die Mönche an ihren 
Tafeln sich dazwischen eingeschlossen fanden. Und eben deshalb mutzte 
die Weisheit des Malers die vorhandenen Mönchstische zum Vor¬ 
bilde nehmen. Auch ist gewiß das Tischtuch mit seinen gequetschten 
s Falten, gemusterten Streifen und aufgeknüpften Zipfeln aus der 
Waschkammer des Klosters genommen, Schüsseln, Teller, Becher und 
sonstiges Geräte gleichfalls denjenigen nachgeahmt, deren sich die 
Mönche bedienten. 
Hier war also keineswegs die Rede von Annäherung an ein 
10 unsicheres, veraltetes Kostüm. Höchst ungeschickt wäre es gewesen, 
an diesem Orte die heilige Gesellschaft auf Polster auszustrecken. 
Nein, sie sollte der Gegenwart angenähert werden, Christus sollte 
sein Abendmahl bei den Dominikanern zu Mailand einnehmen. 
Auch in manchem andern Betracht mutzte das Bild große Wirkung 
iS tun. Ungefähr zehn Fuß über der Erde nehmen die dreizehn Figuren, 
sämtlich etwa anderthalbmal die Lebensgröße gebildet, den Raum 
von achtundzwanzig Pariser Fuß der Länge nach ein. Nur zwei der¬ 
selben sieht man ganz an den entgegengesetzten Enden der Tafel; 
die übrigen sind Halbfiguren, und auch hier fand der Künstler in 
so der Notwendigkeit seinen Vorteil. Jeder sittliche Ausdruck gehört 
nur dem obern Teil des Körpers an, und die Füße sind in solchen 
Fällen überall im Wege; der Künstler schuf sich hier elf Halbfiguren, 
deren Schoß und Knie von Tisch und Tischtuch bedeckt wird, unten aber 
die Füße im bescheidenen Dämmerlicht kaum bemerklich sein sollten. 
25 Nun versetze man sich an Ort und Stelle, denke sich die sittliche 
äußere Ruhe, die in einem solchen mönchischen Speisesaale obwaltet, 
und bewundere den Künstler, der seinem Bilde kräftige Erschütterung, 
leidenschaftliche Bewegung einhaucht und, indem er sein Kunstwerk 
möglichst an die Natur herangebracht hat, es alsobald mit der nächsten 
so Wirklichkeit in Kontrast setzt. 
Das Aufregungsmittel, wodurch der Künstler die ruhig heilige 
Abendtasel erschüttert, sind die Worte des Meisters: „Einer ist 
unter euch, der mich verrät!" Ausgesprochen sind sie, die ganze 
Gesellschaft kommt darüber in Unruhe; er aber neigt sein Haupt, 
3b gesenkten Blickes; die ganze Stellung, die Bewegung der Arme, der 
Hände, alles wiederholt mit himmlischer Ergebenheit die unglücklichen 
Worte; das Schweigen selbst bekräftigt: „Ja, es ist nicht anders! 
Einer ist unter euch, der mich verrät." 
Ehe wir aber weitergehen, müssen wir ein großes Mittel ent- 
4o wickeln, wodurch Lionardo dieses Bild hauptsächlich belebte: es ist
	        
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